Der Fürst und sein Gefolge verließen den Saal. Shaya blickte ihnen erstaunt nach. Arcumenna sah nicht einmal zu ihr zurück. Konnte es sein, dass er einfach nur höflich war, ganz ohne Hintergedanken?
Saham klatschte leise. Außer den Kranken war nur er geblieben. Enak hatte sich dem Gefolge des Fürsten angeschlossen.
»Was für ein Duell. Der Feldherr gegen die Kriegerin. Ich würde wetten, Ihr werdet schon bald einen festen Platz im Gefolge unseres Fürsten haben.«
Shaya zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin keine Kriegerin.«
»Ich erkenne eine Kämpferin, wenn ich sie sehe. Ihr wart großartig, Herrin.«
»Ich bin eine Kämpferin gegen Krankheit und Tod.« Sie versuchte, nicht verärgert zu klingen. »Und manchmal auch gegen schlechtes Benehmen.«
Saham schüttelte den Kopf. »Die meisten Männer in dieser Stadt hätten es nicht gewagt, so mit dem Fürsten zu reden. Ihr seid eine Kriegerin, ganz gleich, was Ihr mir erzählt. Ihr könntet Schlachten lenken, da bin ich mir sicher.«
»Na, dann widmen wir uns doch der Schlacht um das Leben unserer Kranken. Ich brauche frisches Wasser, um die Bettlägerigen zu waschen. Mach dich auf den Weg und hol mir zwei Eimer voll.«
Der Alte schlug sich mit der Faust vor die Brust, wie Krieger es manchmal taten, wenn sie ihren Fürsten grüßten. »Jawohl, Gebieterin!« Lachend und mit zackigen Schritten eilte er aus dem Saal.
Shaya wurde sich bewusst, wie die Kranken sie anstarrten. Die meisten von ihnen konnten nicht verstanden haben, was gesprochen worden war.
Plötzlich schlug sich auch Vibius vor die Brust und grüßte sie, als wäre sie seine Feldherrin. Einer nach dem anderen taten die Männer es ihm gleich. Die Schwachen deuteten den Gruß mehr an. Selbst jene, die sich schreiend gegen die Amputationen gewehrt hatten, schlossen sich an.
Shaya schluckte. Sie war gerührt. Und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Mit einem verlegenen Lächeln zog sie sich auf die Terrasse zurück. Noch war sie leer, doch zur Abendstunde wurden die Betten der Verwundeten wieder herausgetragen. Saham und Enak fluchten über diese zusätzlichen Mühen. Aber der Erfolg war es ihr wert. Müde blickte Shaya über die weite See. Die Sonne war fast im Meer versunken.
In den letzten Tagen hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht, bei Sonnenuntergang hinauszutreten, um das Schauspiel der Farben zu genießen und für kurze Zeit mit sich allein zu sein. Eine Meile voraus erhob sich ein einsamer Wachturm auf einer kleineren Klippe im Meer. Wie jeden Abend wurde auf seiner Plattform ein Signalfeuer entzündet, um den Schiffen ihren Weg nach Asugar zu weisen. Shaya liebte den Frieden dieser Sonnenuntergänge. Sie war froh, sich ihren Platz erobert zu haben, auch wenn es um den Preis war, wohl bald wieder in den Krieg zu ziehen. Der Weiße Wolf, der Devanthar ihres Volkes, trieb wohl seine Scherze mit ihr. Frieden gönnte er ihr nicht.
Saham hatte recht. Sie war eine Kriegerin, und ihr Leben war untrennbar mit Schlachtfeldern verbunden. Sie atmete tief ein und genoss den leichten Salzgeschmack auf ihren Lippen. Ein großer schwarzer Schatten näherte sich dem Grottenhafen der Stadt. Eine Kriegsgaleere. Ihre langen Ruder wühlten die dunkle See auf. Ein Heer war schon in der Stadt. Angeblich lagen unten im Hafen fünfzig Kriegsschiffe vor Anker. Hoffentlich führte das Schicksal sie nicht hinaus auf die See. Sie konnte nicht einmal schwimmen.
»Herrin?«
Saham war mit seinen Wassereimern zurückgekehrt, und Shaya war froh, sich ihren Pflichten widmen zu müssen, statt sich weiter fruchtlosen Grübeleien hinzugeben.
Ein ganz besonderer Gast
Die Arme hoch über dem Kopf an die Wand gekettet, stand Bidayn auf Zehenspitzen und vermochte sich kaum zu bewegen. Sie streckte sich, bis sie die Finger ihrer Rechten fest um den Daumen ihrer linken Hand schließen konnte, und begann zu ziehen. Zugleich drehte sie den Daumen. Mit scharfem Knacken sprang er aus dem Gelenk. Der Schmerz ließ die Elfe in sich zusammensacken. Tränen standen ihr in den Augen. Dennoch drückte sie den ausgekugelten Daumen in ihre Handfläche und zog die Linke aus der eisernen Fessel. Es war immer noch eng. Das raue Eisen schrammte ihre Haut auf. Dann war sie frei.
Sie blickte zu dem Ring in der Wand, durch den die Kette geführt war, an der ihre Handfesseln hingen. Jetzt, da sie einen Arm befreit hatte, könnte sie die Kette einfach durch den Ring ziehen. Sie könnte sich auf dem Boden ausstrecken, statt weiter an der feuchten Wand zu hängen. Doch dann würde sie einschlafen, dachte sie bitter, und wenn man sie entdeckte, würde sie so gefesselt werden, dass sie sich nicht noch einmal befreien könnte. Sie musste also stehen bleiben.
Bidayn biss die Zähne zusammen und renkte sich den Daumen wieder ein. Dann streckte sie sich und griff mit der verletzten Hand nach der eisernen Schelle. Wer nur flüchtig hinsah, würde nichts bemerken. Sie versank in Trance. Die Stunden zogen sich. Als Durst sie zu quälen begann, versuchte sie, den Gedanken an einen Schluck Wasser auszublenden, doch es fiel ihr immer schwerer.
Lachen riss sie aus einer Fantasie von einer klaren, sprudelnden Bergquelle. Benommen sah sie hoch. Licht fiel durch das kleine Gitterfenster der Tür.
»Du wirst dich anständig benehmen!«
Ein sympathisches, warmes Lachen erklang. »Dann wäre ich wohl nicht in diesem Haus.«
»Du weißt, was ich meine«, kam es ärgerlich zurück.
»Nein.«
»Das letzte Mädchen, das du besucht hast, konnte eine Woche lang nicht mehr arbeiten.«
Wieder dieses Lachen, das eigentlich herzlich klang. »Manchmal geht die Leidenschaft mit mir durch. Aber ich verspreche, ich werde diesmal keine bleibenden Spuren hinterlassen. Außerdem habe ich fürstlich bezahlt.«
»Die Kleine ist ganz neu.«
»Und ihr verkauft sie an mich? Die Arme.«
Der Riegel an der Kerkertür wurde zurückgezogen. »Du klopfst drei Mal, wenn du wieder heraus willst.«
Gelächter. »Du stehst also draußen und lauschst? Ich werd sie ein bisschen quieken lassen für dich.«
Die Kerkertür ging auf. Ein leicht untersetzter Glatzkopf trat ein. Bidayn sah ihm ruhig entgegen. Er hatte Lachfältchen um die Augen und wirkte nett. Er verneigte sich sogar vor ihr. »Es freut mich sehr, dass wir einander kennenlernen, Anisja.«
Die Tür schloss sich. Der Wächter, der draußen warten wollte, hatte sich nicht blicken lassen.
»Verstehst du meine Sprache?« Ihr Besucher sprach langsam und artikulierte jedes Wort überdeutlich. Er sprach luwisch.
Bidayn schwieg.
»Also nicht.« Er strich sich über die Glatze. »Schade, es macht immer so viel mehr Spaß, wenn man einander versteht.« Er trug ein zusammengerolltes Stoffbündel unter dem linken Arm, das er nun auf dem Tisch neben der Tür ablegte.
Der Fremde löste den breiten Ledergürtel um seine Hüften. Bidayn sah, dass er keine Waffe trug. Nur ein praller Lederbeutel hing vom Gürtel. Vermutlich irgendein reiches Schwein, dachte sie.
Er streifte sich seinen Chiton über den Kopf. Sie hatte diese Gewänder immer schon affig gefunden. Wie ein ärmelloses Kleid sahen sie aus und reichten den Männern etwa bis zur Mitte der Oberschenkel.
»Wie du siehst, bin ich kein Hungerleider.« Er patschte sich mit beiden Händen auf den Wanst. Seine Haut war ungewöhnlich hell. Was immer er machte, an die Sonne musste er dafür nicht.
Er begann zu summen, drehte ihr den Rücken zu und machte sich an dem Stoffbündel auf dem Tisch zu schaffen. Bidayn starrte auf den hängenden Arsch des Mannes und stellte sich vor, wie sie ihn umbringen würde. Er durfte keine Gelegenheit mehr bekommen zu schreien. Das ließ nicht viele Optionen offen.
»Schau einmal, was ich uns mitgebracht habe.« Er trat von dem Tisch zurück, sodass sie sehen konnte, was fein säuberlich aufgereiht auf dem Stoff lag. Eine Sammlung von neun seltsamen Pflöcken. Sie alle waren unterschiedlich lang und dick. Einer lief besonders spitz zu und war mit Goldblech beschlagen.
»Wirklich zu schade, dass du mich nicht verstehst. Mir scheint, du hast gar keine Angst …« Er lächelte. »Das kommt noch, das verspreche ich dir. Wir fangen mit dem Kleinsten an. Danach wirst du wissen, was dich erwartet. Und dann wirst du beginnen, für mich zu singen. Ich mag es, wenn Frauen weinen und betteln. Natürlich wird das nicht helfen, aber du wirst es trotzdem tun.«