Er nahm einen Pflock aus dunklem Holz, streichelte mit der Hand über die polierte Spitze und trat dann auf sie zu.
Bidayn ließ die Schelle los, an der sie sich festgehalten hatte. Sie riss den rechten Arm hinab. Rasselnd glitt die Kette durch den Eisenring an der Wand. Dann holte sie aus. Wie eine Peitschenschnur schnellte die Kette vor und wickelte sich um den Hals ihres entsetzten Besuchers.
Die Elfe trat dicht vor ihn und rammte ihm ihr Knie zwischen die Schenkel. »Ich verstehe dich sehr gut, Bastard. Dies war dein letzter Besuch bei einer Frau. Und ich war noch nie so froh wie heute, dass ich gelernt habe, dies hier zu tun.« Mit diesen Worten trat sie hinter ihn, packte ihn beim Kinn und riss seinen Kopf mit einem scharfen Ruck zur Seite. Knackend brach sein Genick.
Sie ließ den leblosen Körper zu Boden sinken, kniete neben ihm nieder und wickelte die Kette vom Hals des Toten. Sie wünschte sich, sie hätte mehr Zeit gehabt, ihn zu töten. Aber ihre Wünsche mussten zurückstehen. Das hier hatte schnell und lautlos geschehen müssen.
Bidayn schlang sich die Kette um den rechten Arm, dann zog sie den roten Chiton ihres Besuchers an. Er duftete nach Veilchen! Wäre sie diesem Irren auf der Straße begegnet, hätte sie ihn für einen Langweiler mittleren Alters gehalten. Kopfschüttelnd hob sie den Gürtel auf und schlang ihn um ihre Hüfte. Die Geldkatze daran war schwer. Arm war der Kerl nicht gewesen.
Bidayn trat an den Tisch und betrachtete die eigenartigen Pflöcke. Sie alle waren makellos sauber. Die Elfe mochte sich gar nicht vorstellen, wozu sie dienten. Angewidert nahm sie den spitzen, mit Goldblech beschlagenen Pflock an sich und hieb ihn drei Mal vor die Kerkertür.
»So schnell fertig?«, ertönte die Stimme des Wärters auf dem Gang.
Die Elfe stellte sich seitlich der Tür dicht an die Wand, sodass sie durch das kleine Gitterfenster nicht zu sehen war. Der Hebel glitt zurück. Die Tür schwang auf.
»Wo steckst du …«
Als der Zuhälter über die Schwelle trat, rammte Bidayn ihm den Pflock ins Auge. Doch nicht tief genug, er schrie auf. Ein Stoß mit dem Handballen auf das Ende des Pflocks ließ ihn für immer verstummen. Jetzt war das Folterinstrument fast gänzlich in seinem Schädel verschwunden.
Nervös trat Bidayn aus der Tür und sah sich um. Vor ihr lag ein dunkler, schmaler Kellergang, von dem noch etliche weitere Türen abgingen. Nirgends war ein zweiter Wächter zu sehen. Am Ende des Gangs lag eine schmale, hölzerne Treppe, die nach oben führte. Daran, wie sie hierhergekommen war, hatte die Elfe nicht die geringste Erinnerung. Sie lauschte, doch alles war still. Kein Laut drang aus den anderen Kerkern. Was sie wohl oben an der Treppe erwartete?
Bidayn bückte sich, nahm dem toten Wärter seinen Dolch ab und einen weißen Seidenschal, den sie sich als Turban um den Kopf wand. So konnte sie ihr langes Haar verschwinden lassen. Dann sah sie auf die Kette, die sie um ihren rechten Arm gewickelt hatte. Unauffällig war das nicht gerade. Bidayn wog den Dolch in ihrer Linken. Sie konnte den Daumen kaum krümmen. Bis er sich erholte, würde einige Zeit vergehen. Sie sollte besser nicht versuchen, mit links zu kämpfen.
Einen Moment erwog sie, den Zauber zu weben, der sie schneller werden ließ. Aus diesem Haus würde sie so sicher leicht entkommen. Aber sie wusste nicht, wie weit sie von der Goldenen Pforte entfernt war. Wäre sie zu nah, würden die Devanthar oder die silbernen Löwen auf sie aufmerksam werden. Nach dem Kampf bei Volodis Palast wurde die Stadt sicherlich besser bewacht. Sie durfte dieses Risiko nicht eingehen, denn der Goldene musste erfahren, wo das Traumeis versteckt war!
Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ ihn hin und her pendeln. Dann streckte sie die Arme, die von den Stunden, die sie an der Wand gehangen hatte, noch steif waren. Ihre Schultergelenke knackten.
Entschlossen sah sie zur Treppe und zu der Tür hinauf, zu der diese führte. Sie war eine Drachenelfe! Ganz gleich, was sie dort oben erwartete, sie würde damit fertigwerden!
Sie schlich die Treppe hoch, ohne dass eine einzige der Holzstufen unter ihren Füßen knarrte. Es roch auch hier noch intensiv nach Schimmel und Feuchtigkeit, so, als hätte der Keller einmal unter Wasser gestanden.
Einen Herzschlag lang verharrte Bidayn vor der dunklen Tür und lauschte. Von draußen waren gedämpfte Stimmen zu hören. Einmal erklang ein abgehacktes, affektiertes Lachen. Entschlossen schob sie die Tür auf. Ein Vorhang aus schwerem Stoff versperrte ihr die Sicht. Vorsichtig zog sie ihn zur Seite und spähte durch einen kurzen Flur auf einen sonnendurchfluteten Innenhof. Um einen Brunnen rekelten sich mehrere halbnackte Frauen. Männer standen im Schatten und redeten. Einige hielten Pokale in der Hand und nippten gelegentlich daran.
Bidayn sah wieder auf die Ketten an ihrem Arm. Sollte sie sich ihren rechten Daumen auch noch auskugeln, um dieses verfluchte Ding loszuwerden? Sie entschied sich dagegen.
Ein von Säulen gesäumter Kreuzgang umgab den Innenhof. Dieses Haus war eindeutig für wohlhabende Gäste geschaffen. Vielleicht würden die sie mit ihrer Verkleidung gar nicht beachten.
Und tatsächlich, die anwesenden Männer ignorierten Bidayn. Doch die Elfe war sich bewusst, dass einige der Frauen beim Brunnen sie aufmerksam beobachteten.
»Suchst du Unterhaltung?« Eine zierliche Schwarzhaarige war überraschend hinter einer Säule hervorgetreten. Sie trug einen weiten, mit falschen Perlen bestickten Umhang und sonst nicht sehr viel.
Die Hure strich lasziv über die Kette an Bidayns Arm. »Oh! Hast du das mitgebracht, um mich zu fesseln?«
»Ich … äh … bin fertig für heute …« Sagte man das so? Bidayn wollte fort, aber sie musste verhindern, Aufsehen zu erregen.
»Ich bin mir sicher, ich kann dort noch ein kleines Wunder wirken. Du musst nur …«
Bidayn packte die Hand der Hure, kurz bevor diese ihr zwischen die Schenkel griff. »Nicht heute. Aber dein Umhang, er gefällt mir.«
Das Mädchen klimperte kokett mit ihren langen Wimpern. »Den kann ich wirklich nicht hergeben. Ich wäre ja nackt ohne ihn.«
Die Elfe verkniff sich eine Antwort und öffnete die gestohlene Geldbörse. Ohne die Hure aus den Augen zu lassen, tastete sie nach den Münzen. Schließlich hielt sie ihr fünf Silberstücke hin. »Das sollte reichen.«
Ein gieriges Glitzern trat in die Augen des Mädchens. Sie hatte begriffen, dass Bidayn auf jeden Fall den Umhang wollte, warum auch immer. »Leg noch zwei Münzen dazu, und wir sind handelseinig.« Sie strich Bidayn mit ihrem Zeigefinger über das Kinn. »Ich habe eine Schwäche für bartlose Jünglinge mit schönen Augen.« Sie machte eine ärgerliche Geste zum Hof hin. »Keiner der alten Hurenböcke hier hätte ihn von mir bekommen.«
Natürlich, dachte Bidayn zynisch und kramte noch zwei Münzen hervor.
Das Mädchen biss prüfend in jedes einzelne Silberstück, bevor sie sich aus dem Umhang schälte. »Ich hoffe, ich sehe dich bald wieder, mein Hübscher.« Sie legte Bidayn den Umhang um die Schultern und gab ihr einen Kuss, der nach Apfel schmeckte.
»Ich … ähm, bin ein wenig verwirrt.«
Die Hure lächelte. »Das kann geschehen, wenn ich küsse. Und glaub mir, es ist erst der Anfang deiner Verwirrung.«
»Sicher … Aber ich meinte, wo war auch gleich der Ausgang?«
»Wie uncharmant.« Sie wies quer über den Hof. »Dort hinten. Nimm den mittleren Durchgang.«
Sie küsste Bidayn erneut, diesmal etwas leidenschaftlicher. Als sich ihre Lippen lösten, hatte sie verstanden, dass bei diesem Gast heute nichts mehr zu holen war. Sie schloss die Hand um ihre sieben Silberstücke zur Faust. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, mein Schöner.« Mit diesen Worten lief sie den Kreuzgang entlang und verschwand durch eine der zahlreichen Türen, die sich auf den Innenhof öffneten.