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Bidayn folgte dem Weg, den ihr das Mädchen gezeigt hatte. Den mit der Kette umwickelten Arm hielt sie nun sorgsam unter dem neu erworbenen Umhang verborgen.

Natürlich war der Ausgang bewacht. Ein großer, breitschultriger Türsteher lehnte an der Wand und musterte sie skeptisch. »An dich erinnere ich mich gar nicht«, sprach er sie in der Zunge Drusnas an.

»Muss daran liegen, dass ich gestern Abend früh gekommen bin«, entgegnete sie frech und benutzte den breiten, schwerfälligen Dialekt, den man in den östlichen Wäldern Drusnas sprach.

»Dann hattest du wohl viel Spaß.«

»Den hatten die Mädels. Nächstes Mal sollte ich mich für meine Liebesdienste bezahlen lassen. Sie haben mir alle gesagt, ich sei wie ein Hengst.«

Der Drusnier lachte. »Natürlich. Wir haben hier nur Hengste zu Besuch.«

Er öffnete die Tür, und Bidayn trat hinaus auf die Straße. Sie konnte es kaum glauben, sie war entkommen! Gegen die helle Sonne blinzelnd, blickte sie den terrassierten Hang hinauf und orientierte sich an den Ankertürmen, um einzuschätzen, wo die Goldene Pforte lag. Sie war näher am Fluss, als sie erwartet hatte.

Ohne Eile begann sie den Anstieg durch enge Gassen und über die marmornen Stufen breiter Prachtstraßen. Immer wieder hielt sie inne und sah zurück, ob sie verfolgt wurde. Doch noch schien niemand die beiden Toten im Keller des Freudenhauses entdeckt zu haben.

Als Bidayn den Platz der tausend Zungen erreichte, fühlte sie sich so sicher, dass sie sich bei einer der zahlreichen Garküchen erst einen großen Krug Wasser und dann drei kleine, würzige Hühnerspieße kaufte, um ihren schlimmsten Hunger zu lindern.

Eine halbe Stunde später erreichte sie den weiten Platz vor dem Albenstern. Wie sie erwartet hatte, wachten noch mehr silberne Löwen als zuletzt. Die Elfe verhielt sich unauffällig. Noch zwei Mal kaufte sie einen Becher Wasser bei einem fliegenden Händler. Dann bestach sie einen Viehtreiber einer Karawane, die nach Luwien ging, und schloss sich dem langen Zug aus Menschen und Packeseln an.

Sie achtete darauf, weit hinten zu gehen. Schließlich war sie die Letzte auf dem Goldenen Pfad, der das Nichts teilte. Niemand bemerkte, wie sie verloren ging und sich einen Weg nach Albenmark suchte.

Eine Rose

Er war noch immer im verfallenden Palast seiner verlorenen Liebe. Obwohl sie froh war, ihn gleich gefunden zu haben, gefiel Bidayn das nicht. Warum kam er so oft nach Langollion? Warum konnte er Aillean nicht vergessen?

Leise näherte sie sich ihm. Der Goldene lag in Drachengestalt zwischen den verdorrten Rosen. Sein Blick war weit auf das Meer gerichtet. Er schenkte ihr keine Beachtung. Welche Gedanken ihn wohl quälten? Dachte er an die Zukunft Albenmarks oder an Aillean?

Lange stand Bidayn schweigend an der Seite der Himmelsschlange. Sie fühlte sich winzig und begriff, wie unbedeutend sie für ihn war. Sie war nicht die Auserwählte, deren Weg er mit Stolz verfolgte. Sie war nur eine weitere in einer langen Reihe von Närrinnen, die sich für ihn aufopferten. Wie hatte er Lyvianne gedankt? Sie war einfach vergessen.

»Ihr habt den Ort gefunden, an dem das Traumeis versteckt wurde, meine Dame?«

Er sah sie nicht an, aber allein die Tatsache, dass er endlich mit ihr sprach, machte sie schon glücklich.

»Es ist kein Ort, Herrscher der Himmel. Es ist eine Kreatur. Sie ist groß wie ein Berg. Ein Ungeheuer, das anzusehen schon unerträglich ist. Mit Tentakeln behangen wie die Wolkensammler, aber auf zwei Beinen gehend. Manche Menschenkinder glauben, es sei der Sohn der Göttin Nangog. Andere nennen die Kreatur einfach nur den Meerwanderer. Er ist der Schrecken des Purpurnen Meeres. Ein Schiffeverschlinger, der schon ganze Küstendörfer vernichtet haben soll. Auf seinem Rücken gibt es Poren in der Haut, die groß wie kleine Gruben sind. Dort hat der Drusnier das Traumeis in versiegelten Amphoren versteckt. Der Meerwanderer wird es nur ihm überlassen. Jeden anderen, der versucht, den Schatz zu stehlen, wird er töten.«

»Dann werden wir eben jemanden schicken, der ihn tötet.« Endlich wandte er ihr den Kopf zu. Seine geschlitzten Pupillen erschienen der Elfe wie Mäuler, die sie verschlingen wollten. »Ich spüre Eure Angst, Dame Bidayn. Sorgt Euch nicht, ich werde nicht Euch entsenden.«

Sie war erleichtert und zugleich enttäuscht. War sie nicht länger seine Auserwählte?

»Ihr werdet Euch zurück nach Uttika zu Eurem Ehemann und Euren beiden Stieftöchtern begeben.«

»Aber …«

»Liebe Bidayn, ich möchte Euch nicht verletzen. Mein einziges Anliegen ist es, Euch in Sicherheit zu wissen. Eure Gefährten sind ebenfalls in Uttika. Ihr werdet dort warten, bis ich Euch neue Befehle zukommen lasse.«

Das Wohlgefühl, das seine Ausstrahlung und seine Stimme hervorriefen, vermochte Bidayn nicht über die Zurückweisung hinwegzutrösten.

Der Drache regte sich. Mit erstaunlichem Geschick griff seine riesige Pranke nach der einzigen Rose in Blüte in dem verdorrten Busch vor ihm. Behutsam brach er sie ab. »Bitte missversteht mich nicht, meine Dame. Ihr werdet meine schärfste Klinge sein, wenn der Tag kommt, die Verräter in unseren Reihen ihrem Schicksal zuzuführen, doch für den Kampf gegen diese Bestie habe ich Euch nicht erschaffen. Dies wird gröbere Mittel erfordern und den Einsatz von Albenkindern, deren Ableben bedauerlich, aber nicht unverwindbar wäre.«

Er überreichte ihr mit anmutiger Geste die Rose. »Ich muss Euch in Sicherheit wissen, um meinen Kampf fortsetzen zu können, schöne Bidayn. Ich weiß, Ihr werdet Euch in Uttika langweilen und mit Eurem Schicksal hadern, doch ist dies ein Ort, an dem Euch gewiss kein Leid geschehen wird. So kann ich ruhigen Herzens sein.« Er senkte den Blick. »Verzeiht, dass ich so selbstsüchtig bin.«

Sie würde ihm alles verzeihen, dachte Bidayn und nahm die Rose. Es war keine Zurücksetzung! Wie hatte sie in seinen Augen Mäuler sehen können? Sie waren doch so voller Wärme und Güte. Sie wusste, wen er mit den Verrätern meinte. Sie wusste, wie gefährlich Nandalee war. Sie würde mit ihren Gefährten üben. Mit aller Härte, und sie würde niemals aufhören, auch wenn es Jahre dauern sollte, bis er sie rief. Sie wollte bereit sein, wenn die Stunde der Abrechnung kam.

Während der Drache sich wieder abwandte und zum Meer hinausblickte, roch Bidayn an der Rose. Sie schuldete dem Goldenen ihre Hingabe. Sie war seine beste Mörderin. Und sie würde ihn nicht enttäuschen! Ungeschlachte Bestien sollten andere jagen. Sie würde die schwer zu entdeckenden Bestien ausmerzen, die sich bei den Drachenelfen eingeschlichen hatten. Die Zauderer und Intriganten. Jene, denen das Wort der Himmelsschlangen nicht mehr Gesetz war.

Labarna, vor allen Menschen geliebt von Išta

»Der Unsterbliche Labarna, vor allen Menschen geliebt von Išta, aber zog nach Naga, der Stadt, in der die Kinder sterben. Er tat dies, weil die grauen Riesen gekommen waren und hässliche Zwerge und Männer, die zu Pferden geworden waren. Und er stellte sie auf dem Feld vor der Stadt, als sie ihre Beute fortschaffen wollten. Sie waren Elende und kämpften mit zerbrochenem Herzen. Sie waren Räuber ohne Mut, wenn sie auf einen Mann starken Herzens trafen. Und Labarna schlug sie auf das Haupt! Und er stellte seinen Fuß in den Nacken der grauen Riesen! Und er trug den Krieg zu ihnen, und er hat ihre Frauen erbeutet und ihre Leute fortgeführt! Und er warf die erschlagenen Riesen in ihre Brunnen, auf dass ihr Gift das Wasser tränkte, und er erschlug ihr Vieh, und er hat das Getreide ausgerissen und mit eigener Hand Feuer daran gelegt, auf dass die Daimonen lernen, was es heißt, Labarna, vor allen Menschen geliebt von Išta, herauszufordern!«

Inschrift auf der Siegesstele von Naga, verwahrt in der Bibliothek von Iskendria, Saal der Versunkenen Königreiche.

ANMERKUNG: »Folgt man den Forschungen des Meliander, muss der Wahrheitsgehalt der Inschrift angezweifelt werden, fand der Überfall auf Naga doch im ersten Jahr des Drachenkrieges statt, ein Jahr der glanzvollen Siege für die Heere der Himmelsschlangen. Womöglich schildert der Text den Überfall auf eine Teilstreitmacht, die Beute nach Albenmark bringen sollte. Dass der unsterbliche Labarna den Königsstein, die einzige grössere Siedlung der Trolle (graue Riesen), überfallen hat, um deren Weiber in die Sklaverei zu führen, kann mit Sicherheit ins Reich der Fabel verwiesen werden.«