Nyr erinnerte sich, wie er Frar in den Armen gehalten hatte. Wie sie ihn mit Drachenblut gesäugt hatten, als es nichts anderes gegeben hatte. Daran, wie sehr Galar geflucht hatte, sein kostbares Drachenblut dem unersättlichen Durst des Kleinen opfern zu müssen. Aber er hatte es gegeben.
Nyr tastete nach der Hand des Schmiedes auf der benachbarten Lehne. »Bist ein guter Kerl«, murmelte er.
Galar sah ihn überrascht an. »Bist du besoffen?«
So war er, dachte Nyr. So machte man sich keine Freunde, selbst wenn man eigentlich gar kein übler Kerl war. So hatte er bisher jeden vergrault, bevor sie sein wirkliches Wesen entdeckten.
»Hast du auch ’nen Schluck für mich? Ich könnte jetzt was brauchen.«
»Bin nüchtern.«
Nyr schloss erneut die Augen und dachte daran, wie Frar manchmal in seinen Armen erwacht war. Wie sehr der Kleine übers ganze Gesicht gestrahlt hatte, wenn er ihn erkannte. Ob das wohl immer noch so wäre, wenn er zu ihm zurückkehrte? Wohl nicht. So schnell konnten sie nicht zurück in die Ehernen Hallen. Sie waren zum Tode verurteilt. Wahrscheinlich würde er den Jungen niemals wiedersehen können.
Einzig Hornbori konnte ihnen helfen. Nyr passte es gar nicht, diesen Schleimer und Aufsteiger unterstützen zu müssen, doch das Wort des Heermeisters würde künftig viel bewegen können. Er musste also auf Hornbori aufpassen. Ihm durfte nichts geschehen, und es wäre gut, wenn …
Ein schriller Drachenschrei ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er klang herausfordernd, ja triumphierend.
Nyrs Magen machte einen Satz seine Kehle hinauf. Der Aal schwebte nicht länger, er stürzte und neigte sich dabei steil mit dem Rumpf nach vorn. Alles, was nicht festgezurrt war, geriet in Bewegung, purzelte durch den Innenraum hinab in Richtung des Platzes, an dem der Steuermann lag.
Hornbori schrie auf. Der Zwerg, der Nyr gegenübersaß, wurde leichenblass und kotzte dann auf die Kurbel.
»Festhalten, Männer!«, schrie Ulur. »Das wird …«
Ein mörderischer Schlag riss Nyr von seinem Sitz. Er prallte auf die massige, eiserne Kurbel, die sich längs durch den Bootsrumpf zog. Die dicken Eisenplatten, aus denen der Aal gefertigt war, kreischten. Seitlich sprühte durch eine aufgeplatzte Naht Wasser ins Boot.
Ulur war einer der Ersten, die wieder auf den Beinen waren. »Galar, kümmer dich um das Leck. Stopf die in Pech getränkten Leinenfetzen aus dem Fass dort drüben in den Spalt. Nyr, die Leiter hoch. Ich erwarte umgehend einen Bericht, was du siehst. Alle anderen, räumt die Kurbel klar. Ich will, dass die Wilde Sau in hundert Herzschlägen fahrbereit ist.« Er klatschte in die Hände. »Los, die Herren! Auf die Beine! Jammert nicht wie alte Waschweiber!«
Nyr war noch ganz benommen. Blut troff ihm von einer Platzwunde an der Stirn. Er tastete nach den Holmen der Leiter und zog sich hoch.
Einen Augenblick kämpfte er mit dem Drehrad, das das Ausstiegsluk verschloss. Hornbori hatte es erstaunlich fest zugedreht. Er mochte ein Feigling sein, aber ein Schwächling war er nicht.
Endlich gab das Rad nach. Ein paar Drehungen, und Nyr konnte das Luk aufstoßen. Salzig-warme Luft schlug ihm entgegen. Er schob den Kopf ins Freie. Die Wilde Sau schwamm in einem Meer von Blut, so schien es. Im Westen versank eine glühend rote Sonne im Meer. Die See war spiegelglatt. Kein Lufthauch regte sich. Es war so warm, dass Nyr sofort zu schwitzen anfing.
Rings um sie herum, auf etwa eine halbe Meile verteilt, sah er Dutzende von Aalen im Wasser treiben. Bei den meisten spähte bereits ein Ausguck aus dem Luk.
»Was siehst du?«, rief Ulur von unten.
»Die Sonne geht unter. Ruhige See …«
»Ich meine den Felsen, du Idiot. Wo liegt der Felsen?«
Nyr drehte sich suchend um. Da war er! Etwa zweihundert Schritt entfernt gab es einen Felsen mit einem Festungsturm darauf. Er konnte Gestalten hinter den Zinnen erkennen. Während er noch hinsah, flammte ein Signalfeuer auf. Nein, der Fels war zu klein …
»Was jetzt?«, rief Ulur ungeduldig. »Hier sitzen alle an den Pedalen. Ich muss wissen, welchen Kurs ich anlegen muss!«
Nun sah es Nyr: da, hinter dem Turm, eine halbe Meile entfernt!
»Kurs Südsüdwest. Ich sehe die Stadt!« Nyr schluckte. Sie war eindrucksvoll groß. Zu groß für fünfhundert Zwerge.
Jetzt hörte er andere Zwerge den Kurs zu ihren Steuerleuten hinunterrufen. Die Flotte richtete sich zu einem weiten Fächer aus, der auf den Grottenhafen von Asugar zusteuerte.
Fünfzig Schritt voraus schoss eine Wasserfontäne auf. Nyr fluchte. Der Turm musste mit Katapulten bestückt sein.
»Wir werden beschossen!«, rief er ins Boot hinab.
»Habt ihr gehört, Jungs?« Ulur klang, als wäre das alles nur ein aufregendes Spiel. »Die schmeißen mit Kieseln nach uns. Tretet die Kurbel! Schnelle Ziele sind schwerer zu treffen!«
Das Wasser am Heck des Aals schäumte auf.
»Siehst du irgendwelche Klippen?«, erklang es von unten.
»Nein!«
Die See war ruhig. Nur nahe dem Turm ragten ein paar Felsen aus dem Wasser, aber wenn sie ihren jetzigen Kurs beibehielten, würden sie um mehr als hundert Schritt steuerbord am Turm vorbeifahren.
Nyr hörte die Schreie der Menschenkinder. Sie versuchten, in aller Eile das Katapult nachzuladen. Immer panischer klangen die Stimmen, und dann begriff der Zwerg, dass es nicht die Aale gewesen waren, auf die sie gezielt hatten.
Schatten am Horizont
Vibius war anstrengend. Shaya war froh, dem nicht enden wollenden Geschwätz des Valesiers zu entgehen, als sie auf die Terrasse vor dem Saal der Fremden trat. Vibius sah sich schon als Besitzer eines großen Weinguts und gern gesehenen Gast an der Tafel des Arcumenna. Die Heilerin lächelte. Träume halfen, das Trauma der Amputation zu überwinden. Es wäre nur schön, wenn Vibius ein wenig stiller träumen könnte.
Shaya genoss die kühle Brise, die über das Meer kam. Der Wind spielte mit ihrem weiten Kleid. Sie stützte sich auf das steinerne Geländer und sah hinaus auf die See. Bewunderte die tausend Rottöne, die der Sonnenuntergang in Meer und Himmel wob. Solange ihr Leben währte, hatte sie gekämpft. Um die Liebe ihres Vaters, um Anerkennung in einem Kriegervolk, in dem Frauen außerhalb der Jurten wenig zählten, um ihre Würde, als sie in die Intrigen Ištas verstrickt worden war, um die Liebe des Unsterblichen Aaron und ihr Überleben im ewigen Eis. Nun musste sie nur noch für andere kämpfen. Für ihre Kranken. Sie selbst durfte sich erlauben, Frieden zu finden.
Eine Bewegung am nördlichen Himmel erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ein dunkles, samtiges Blau, in dem erste Sterne schimmerten, war dort als Vorbote der Nacht am Himmel aufgezogen. Schatten glitten aus dem Blau.
Das Signalfeuer auf dem kleinen, vorgelagerten Wachturm im Meer flammte auf. Im Licht des Feuers sah Shaya, dass die Zinnen besetzt waren. Plötzlich stach ein Flammenstrahl vom Himmel herab. Dann noch einer! Eine Gestalt mit brennenden Armen stieg auf die Zinnen und stürzte sich in die See.
Jetzt sah Shaya Kreaturen mit weiten, ledernen Schwingen um den Turm kreisen. Und andere, die auf Asugar zuhielten.
Die Heilerin verließ die Terrasse und rief Saham zu sich. »Alles aus den Betten!«, rief sie. Das Spital lag tief an der Steilklippe, und doch würden die geflügelten Schrecken sicher auch hier angreifen.
Saham sah sie verwundert an. »Herrin, was …«
»Es ist keine Zeit zu reden! Wer gehen kann, der hilft denen, die bettlägrig sind. Sofort!« Sie beugte sich neben Vibius. »Hoch mit dir.«
Der Valesier sah sie verwundert an, schlang aber seinen Arm um ihren Nacken und ließ sich aufhelfen.
Ein Schatten glitt an den großen Fenstern des Krankensaals vorbei.
»Sie sind hier«, keuchte Vibius. »Sie sind uns aus dem Eis gefolgt.«
Ein weiterer Mann schrie auf und rief etwas in einer Sprache, die Shaya nicht verstand.
Jetzt waren alle Kranken auf den Beinen. Panik stand in ihren Augen.
»Hier entlang!« Shaya zog Vibius mit sich zur großen Tür des Krankensaals. »Wir nehmen die Treppen hinab zu den Vorratskammern!«