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Die Lagerräume des Spitals waren tief in den Fels geschlagen. Dort war es immer kühl, und das Feuer könnte sie dort nicht erreichen. Dumpfe Schreie waren aus den höher gelegenen Bereichen der Stadt zu hören, doch Shaya blickte nicht zurück. Gegen das, was oben in der Stadt geschah, konnte sie nichts tun. Sie konnte nur ihren Kranken helfen.

»Schneller!«, rief sie, bückte sich und legte sich Vibius über die Schultern. Dann hastete sie auf den Flur hinaus, der zum Treppenhaus führte.

Sie lief, so schnell ihre Beine sie trugen, doch die Schreie folgten ihr, wurden immer lauter.

Als sie das Treppenhaus erreichte, setzte sie Vibius auf den Stufen ab. »Hier bist du in Sicherheit.«

Der Wolkenschiffer weinte. Er versuchte, ihre Hand festzuhalten. »Wir sind nirgendwo sicher. Die Geister aus dem Eis sind uns gefolgt. Jetzt kommen sie uns alle holen.«

Shaya löste seinen Griff. Für solchen Unsinn war jetzt keine Zeit. Sie lief den Flur zurück, trieb die Flüchtenden an und hob einen weiteren Beinamputierten auf ihre Arme, der sich auf Saham gestützt hatte. Mit fliegenden Schritten trug sie auch ihn zum Treppenhaus. Schritte und Schreie hallten nun weiter oben auf der weiten Wendeltreppe. Shaya wusste, warum: Weitere Heiler und Kranke flohen wie sie tiefer in den Fels.

»Enak!«, keuchte Saham. Der alte Pfleger war völlig außer Atem. »Er ist noch im Saal.«

Shaya fluchte. Der junge Heiler kam nachts gerne zu ihnen, um auf einem unbelegten Lager zu schlafen. Shaya vermutete, dass er in sie verliebt war, wenngleich er sich stets sehr zurückhielt. In aller Regel war er so erschöpft, dass er, kaum, dass er sich hingelegt hatte, einschlief. Und er schlief wie ein Kind. Licht oder Lärm vermochten ihn nicht zu stören. Man musste ihn sanft rütteln, um ihn aufzuwecken.

»Kümmere dich um unsere Kranken!«, wies sie Saham an. »Je weiter ihr hinabkommt, desto besser. Ich hole Enak.« Sie lief den Flur zurück.

Vor der großen, zweiflügeligen Tür hielt sie an. Unsteter Flammenschein fiel durch den weiten Spalt auf die Wand des Flurs. Deutlich war das Fauchen des Feuers in der Stadt zu hören. Die Schreie vom Beginn des Angriffs waren verstummt.

Vorsichtig spähte Shaya um die Ecke. Durch die großen Fenster im Saal konnte sie Schatten über den rot glühenden Himmel huschen sehen. Augenblicklich ließ sich die Prinzessin auf alle viere nieder. Sie wollte nicht bei einem zufälligen Blick hinein entdeckt werden.

Wo war der Junge? Auf den Betten entlang der Fensterwand konnte sie ihn nicht sehen. Hatte Saham sich am Ende geirrt? Sie sah zu den Wandnischen. Die Hälfte von ihnen war durch Sichtschirme verstellt. Shaya wusste, dass Enak sich gerne einen dieser Plätze aussuchte. Stumm fluchend kroch sie tiefer in den Saal. Wenn er nicht hier war, würde sie Saham den Hals umdrehen!

Die erste Nische war verlassen. Shaya legte den Kopf auf den Boden und blickte durch den schmalen Spalt am unteren Ende des Sichtschirms. Bei keinem der drei verbliebenen Schlafplätzen stand ein Paar Sandalen auf dem Boden. War er also fort? Sie wusste, dass er oft so müde war, dass er in seinem Chiton schlief. Darauf, wie er es mit seinen Sandalen hielt, hatte sie nie geachtet.

Sie schob den Wandschirm zur Seite und kroch weiter zur nächsten Schlafnische. Dort konnte Enak nicht sein, denn dies war ihr Lager. Draußen vor den Fenstern hörte sie das Flattern großer Schwingen. Shaya hatte den Eindruck, die Ungeheuer flogen sehr nah am Fels vorbei. Bloß nicht aufblicken. Sie schob den zweiten Wandschirm beiseite, sorgfältig darauf achtend, dass er nicht umstürzte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Ganz gewiss war das nur eingebildet. Wie hätten die Bestien wissen sollen, dass sie hier war. Außerdem, was bedeutete sie schon? Sie war eine in einer Stadt, in der Tausende lebten.

Sie erreichte den dritten Wandschirm und rückte ihn ein wenig zur Seite. Er wackelte. Shaya hielt ihn fest, bis er still stand.

In dieser Nische lag Enak zusammengerollt wie ein schlafendes Kind. Die Kleider hatte er angelassen. Ebenso die Sandalen. Shaya musste lächeln. Darüber würden sie eines Tages reden müssen. Heiler gingen nicht mit Schuhen ins Bett. Jedenfalls nicht, solange sie im selben Zimmer mit den Kranken schliefen.

»Enak.« Sie griff nach seiner Schulter und schüttelte ihn sanft. Kaum dass er die Augen aufschlug, presste sie ihm die Hand auf den Mund. »Du gibst keinen Laut von dir und folgst mir.«

Seine großen Augen sahen sie fragend an.

»Keinen Laut!«, schärfte sie ihm erneut ein.

Er nickte.

Vorsichtig zog Shaya die Hand zurück. »Du kriechst hinter mir her. Auf keinen Fall richtest du dich auf.«

Er runzelte die Stirn und setzte sich auf. Er wirkte noch ein wenig benommen vom Schlaf.

»Los«, zischte Shaya und kroch von ihm fort. Als sie kein Geräusch hinter sich hörte, drehte sie sich um. Enak stand aufrecht. Er lehnte sich ans Mauerwerk und presste sich eine Hand auf den Magen. Dabei sah er gar nicht gut aus. Plötzlich rannte er los, stieß den Wandschirm vor sich um und hielt auf das Fenster zu, das ihm gegenüberlag.

»Nein!«, schrie Shaya auf. Augenblicklich war sie auf den Beinen, doch Enak hatte bereits das Fenster zur Terrasse erreicht. Lautstark übergab er sich.

Flügel rauschten in der glühenden Nacht.

Shaya packte ihn im Nacken, bei seinem Chiton, und riss ihn zurück.

»Bitte«, jammerte er. »Ich … was soll …«

Ein schlanker Kopf stieß durch das weite Fenster. Keinen Zoll vor Enaks Nase schnappten dolchlange Zähne zusammen. Es war eine Echse, wie jene, die sie bei den Ankertürmen von Wanu gesehen hatte. Nur deutlich kleiner. Ihre Schuppen waren grün, nicht rot.

Bösartige gelbe Augen mit geschlitzten Pupillen musterten sie. Dieses Tier besitzt Verstand, dachte Shaya erschrocken. Es überlegt, auf welche Art es uns beide töten soll.

»Was ist …«

Shaya zerrte Enak mit sich in Richtung der großen Flügeltür. »Das ist unser Tod! Lauf, wenn dir dein Leben lieb ist.«

Auch sie selbst rannte los. Es waren fast zehn Schritt bis zur Tür. Ein rasselndes Geräusch ließ sie über die Schulter sehen. Der Drache kam nicht durch das enge Fenster, doch er wirkte völlig selbstsicher, überzeugt, dass er sie beide noch erreichen würde, obwohl eindeutig war, dass er weder Zähne noch Krallen in sie schlagen könnte. Er holte Atem. Sein mächtiger Brustkorb weitete sich.

Shaya machte einen Satz nach vorn und riss Enak zu Boden. Fast im selben Augenblick schoss ein Flammenstrahl über sie hinweg. Glühende Hitze brannte auf ihrer Haut. Es stank nach verbranntem Haar. Ihr ganzer Rücken schmerzte. Sie sollte sich aufrichten, aber der Schmerz nagelte sie auf den Boden.

Die Flammen schossen durch das weite Tor, prallten auf die gegenüberliegende Wand und schlugen einige Schritt weit in den Krankensaal zurück. Shaya schloss die Augen. Das gleißende Licht brannte sich selbst durch die Lider.

Enak rollte sich unter ihr weg. »Komm«, keuchte er. »Bei den Göttern, nein … das …« Er hob sie hoch. Sie sah in seine schreckgeweiteten Augen. Dann ergab sie sich der friedvollen Dunkelheit, die nach ihr griff. Ein gellender, langer Schrei Enaks war das Letzte, was sie hörte.

Himmlisches Feuer

Arcumenna mochte den billigen, sauren Wein. Dazu das ofenfrische Brot und die Oliven, die eindeutig nicht die erste Wahl gewesen waren. Er kam gerne in die kleine Garstube, die an einem schattigen Ort zwischen den Felsen lag. Einem Ort ohne Blick auf das Meer, der nicht zu viel Sonne abbekam. Der Fisch war hier immer frisch. Der Wirt, Nethun, stets gut gelaunt und voll des Lobes für die neuen Köstlichkeiten des Tages.

Horatius saß ihm gegenüber und sah ihn sauertöpfisch an. Er verabscheute die einfachen Gaumenfreuden. Der Hauptmann seiner Leibwache war der Einzige, dem Arcumenna gestattete, ihn zu begleiten, wenn er hierherkam. Ein Privileg, auf das Horatius gerne verzichtet hätte, wie er schon mehrfach überdeutlich zum Ausdruck gebracht hatte.

Arcumenna vertraute keinem so wie dem einäugigen Krieger. Seit mehr als zwanzig Jahren fochten sie zusammen. In über hundert Kämpfen hatten sie Seite an Seite gestanden. In den Wäldern Drusnas, auf der Jagd nach den Piraten der aegilischen See, im Kampf gegen die Grünen Geister. Sie hatten vieles gemeinsam erlebt, und doch würde ihre Kindheit für immer ein letzter Graben zwischen ihnen bleiben. Horatius stammte aus einer Familie von altem Adel. Seine Sippe stand immer schon dem Unsterblichen Ansur nahe. Arcumenna hingegen war dem einfachen Volk entsprungen. Er hatte einiges an Geld aufgeboten, seine Herkunft zu verwischen und Gerüchte darüber in Umlauf zu bringen, dass er einer Adelssippe entstammte, die bei einem Piratenüberfall ausgelöscht worden war. Die Mehrheit seines Gefolges bei Hof glaubte das inzwischen.