»Schneller!«, rief der Heermeister durch das Luk hinab. »Stemmt euch in die Pedale!«
Ulur kam grummelnd die Leiter hoch, schob den Kopf durch das Ausstiegsluk und sah sich um. »Verdammt gute Sicht«, murmelte er überrascht und beugte sich vor. »Zwei Strich backbord! Halbe Fahrt!«, rief er zur Mannschaft herab.
Das durfte nicht wahr sein! Sie wurden langsamer statt schneller, jetzt, da es auf jeden Augenblick ankam. Der nächstgelegene Anlegeplatz war noch fast hundert Schritt entfernt. Schon zogen die ersten Aale an ihnen vorbei und strebten den vorderen Liegeplätzen am Kai entgegen. »Wir sollten nicht langsamer …«
»Das ist mein Boot, Heermeister. Und ich werde es nicht gegen die verdammte Hafenmauer dort vorne rammen, nur weil du es eilig hast!«
Etwas prallte mit einem metallischen Pling vom Rumpf ab. »Wir sind ein gutes Ziel«, erklärte Hornbori und musste sich zwingen, nicht den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen. »Wir sind der größte Aal. Ich wette, wir werden am meisten abbekommen.«
»Angst?« Ulur grinste breit und zeigte ihm dabei überraschend weiße Zähne.
»Ich bin Hornbori Drachenfaust«, entgegnete der Heermeister großspurig, auch wenn ihm eigentlich das Herz in die Hose gerutscht war. Er sah, wie der Bogenschütze auf dem Felssims einen weiteren Pfeil auf die Sehne legte. Sie sollten hier weg. Und das nicht mit halber Fahrt!
»Ich glaube nicht, dass mich hier irgendetwas umbringen kann.«
Jedenfalls nicht, wenn es meine unverwundbare Hand trifft, dachte der Heermeister bei sich und legte in feierlicher Geste seine Hand auf sein Herz. Es war Zeit, dass er an seiner Legende arbeitete. Wenn er Ulur beeindruckte, würde das seinem Ruf guttun. Der Kapitän der Wilden Sau war selbst eine legendäre Gestalt. Wenn der Dicke lobend über ihn sprach, dann würde das weite Kreise ziehen. »Ich kann es nicht erwarten, meine Männer zum Sieg zu führen. Schnell und tödlich, so soll dieser Angriff verlaufen.«
Wieder prallte etwas vom Rumpf des Aals ab. Zum Glück war der Kerl dort oben ein lausiger Schütze. Dennoch spürte Hornbori, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Zu voller Größe aufgerichtet war er ein erstklassiges Ziel. Ulur hingegen streckte nur den Kopf aus dem Luk. Er musste ihn hier hochlocken. Der fette Kapitän gab ein wesentlich besseres Ziel ab, als er es war.
»Du siehst, ich stehe unter Beschuss, ohne zu weichen. So wie auf der Eisebene. Nicht jeder tut das. Ich bin meinen Männern ein Beispiel!«
Ulurs buschige Brauen ruckten zusammen. Er stieß einen schnaubenden Laut aus und stemmte sich aus dem Luk hoch. »Willst du etwa andeuten …«
»Andeuten?«, fragte Hornbori unschuldig. »Ich sage immer geradeheraus, was ich denke.«
Der massige Kapitän baute sich vor ihm auf. Sehr gut! Er verstellte dem verdammten Schützen fast vollständig das Schussfeld. Allerdings war es besser, wenn dem Dicken nichts geschah. Er war ein guter Bootsführer.
»Nyr! Komm herauf und bring deine Armbrust mit. Es gibt Arbeit für dich. Ein bisschen hurtig, wenn ich bitten darf.«
Wieder ertönten die drei kurzen, abgehackt klingenden Hornrufe. Zugleich legte der erste Aal an der steinernen Mole an. Noch fünfzig Schritt, dann hätte auch die Wilde Sau einen Ankerplatz erreicht. Es konnte fast nichts mehr schiefgehen.
Erneut ertönte das Hornsignal. Diesmal klang es lauter und deutlicher. Der übrige Lärm nahm ab. Die langen Hornstöße, die vom Überfall auf die Oberstadt kündeten, verebbten.
Nyr kam durch das Luk gestiegen.
»Bring den da oben zum Schweigen!«, befahl Hornbori und deutete auf den Wächter mit dem Horn. »Daneben ist ein Bogenschütze, der auf uns zielt.«
Ein weiterer Pfeil flog in ihre Richtung und prallte zwei Schritt vor Ulur auf die Eisenplatten des Aals. Nyr lächelte breit, während er seine Armbrust spannte. »Verstehe, mieser Schütze.« Er hob die Armbrust und schien nicht einmal zielen zu müssen. Nyr zog den Abzug durch, und im nächsten Augenblick wurde der Hornbläser nach hinten gerissen.
Ein Seil wurde ihnen vom Kai aus zugeworfen. Ulur fing es geschickt auf und zog den Aal dicht an den Landungssteg. Sie lagen so tief im Wasser, dass die schmutzige Mauer knapp drei Schritt über ihnen aufragte.
Etwas schrammte über Hornboris Wange, und ein metallisches Klirren erklang.
Nyr pfiff durch die Zähne. »Jetzt hat er sich eingeschossen. Zwei Fingerbreit weiter links und du lägst tot im Hafenbecken.«
Ungläubig tastete sich der Heermeister über die Wange. Helles Blut war auf seinen Fingern.
»Ja, der Idiot da oben hat dich fast erledigt.«
Nyr hatte nachgeladen und hob die Armbrust. Diesmal ließ er sich einen Augenblick Zeit zu zielen. Erneut zog er den Abzugshebel durch. Der Bogenschütze zuckte. Die Waffe entglitt seiner Hand, aber er blieb aufrecht an der Felssäule stehen. In seine Stirn war ein blutiges Loch gestanzt. Der Armbrustbolzen schien den Toten auf den Fels genagelt zu haben.
»So geht das, Junge.« Nyr sagte das völlig beiläufig, als hätte er dem anderen nur eine freundschaftliche Lektion erteilt.
Hornbori war einigermaßen überrascht. Diese Seite des sonst so stillen Richtschützen kannte er kaum. Es schien Nyr überhaupt nichts auszumachen, gerade zwei Menschenkinder getötet zu haben, die ihm im Grunde wehrlos ausgeliefert gewesen waren. War das derselbe Nyr, der es verwerflich gefunden hatte, diese Stadt dem Drachenfeuer zu überlassen?
»Alles in Ordnung?«, fragte der Richtschütze und sah ihn besorgt an.
Hornbori nickte und tastete noch einmal über seine Wange. »Ist nur ’ne kleine Schramme«, sagte er mit fester Stimme. Dann griff er auf seinen Rücken und zog seine neue Axt, Schädelspalter, aus den Halteschlaufen. Es fühlte sich gut an, die Waffe in Händen zu halten. Sie war gut ausgewogen und erstaunlich leicht. Schon während der Reise hatte sie die Aufmerksamkeit der Besatzung erweckt, und er hatte ein Geheimnis daraus gemacht, woher er sie hatte. Sollten die Männer ruhig irgendwelche Geschichten erfinden. Alles war besser als die Wahrheit. Zwerge, die Geschenke von Drachen annahmen, waren nicht sonderlich beliebt.
Galar kam aus dem Luk geklettert. Ihm stand die Mordlust in die Augen geschrieben. Er durfte ihm nicht die Heldenrolle überlassen. Also ging Hornbori zum Bug und war mit einem weiten Schritt auf der Steintreppe, die hinauf zum Kai führte. Entschlossen erklomm er die Stufen. Oben auf der Anlegestelle waren bereits andere Zwerge. Es war ungefährlich … Und dennoch war er als Erster von seiner Besatzung beim Angriff von Bord gegangen. Er grinste zufrieden. Das war gut für seinen Ruf.
Er sah sich nach einem seiner Hauptleute um und entdeckte Ginnar aus Ishaven. Ginnar schickte gerade einen Trupp Armbrustschützen die Mole hinauf, um ihre Anlegestellen gegen einen Angriff der Menschenkinder zu sichern.
»Widerstand?«
Ginnar drehte sich zu ihm um. Er hatte ein Gesicht wie ein Totenschädel. Die untere Hälfte war rot vernarbt, seit die Kobolde der Eisbärte ihn schwer verwundet hatten. Sie hatten ihn für tot gehalten und ihm seinen Bart samt der Haut darunter abgezogen, um daraus eine ihrer widerwärtigen Trophäen zu fertigen.
»Kein organisierter Widerstand, Heermeister. Wir haben sie bei den Eiern.«
»Dann ist es an der Zeit, ihre Eier ein bisschen zu quetschen!« Hornbori hob die Axt hoch über den Kopf. »Vorwärts, Männer. Stürmen wir die Aufgänge zur Oberstadt!«
Jetzt erklang auch vor ihnen das Alarmsignal aus den drei kurzen Hornstößen, aber es war zu spät. Hornbori sah über seine Schulter. Schon fast hundert Zwerge waren auf dem Kai.
»Vorwärts, Männer!« Er rannte los und achtete sorgsam darauf, nicht aus Versehen der Vorderste in der Angriffsreihe zu sein.
Säulentrommeln
»Scheiß auf Vorsicht!«, fluchte Galar und stürmte um die Ecke.
Nyr setzte ihm sofort nach, die Armbrust im Anschlag. Der Schmied war einfach zu ungeduldig! Das Gewölbe, das sie betraten, war finster. Hier, tief im Berg, gab es dieses seltsame blaue Licht, das die Hafengrotte erhellt hatte, nicht mehr.