Mit erschreckender Geschwindigkeit kam die Walze auf ihn zu. Galar hatte das Gefühl, dass seine Gedärme sich in Wasser verwandelten. So wie sie die Treppe hinabdonnerte, sah sie deutlich eindrucksvoller aus als die Säulentrommeln, die er eben noch im Gewölbe bei Ginnar gesehen hatte.
Er fluchte und rannte weiter. Sie wurde immer größer, diese verfluchte Steinwalze. Nur noch zwanzig Treppenstufen trennten ihn von ihr. Und jetzt begriff er, welchen verhängnisvollen Fehler er gemacht hatte. Er musste nicht allein die Säulentrommel überspringen. Es ging treppauf. Er musste, selbst wenn er bis zum allerletzten Augenblick abwartete, noch mindestens eine Treppenstufe zur Höhe, die er überspringen wollte, hinzurechnen. Besser zwei. Die Stufen waren aber jeweils zwei Handbreit hoch. Mit der Erkenntnis wich ihm alle Kraft aus den Beinen. Das war zu viel! So hoch konnte er nicht aus dem Stand springen …
Der Boden vibrierte jetzt so stark, dass sich das Zittern in seinen ganzen Leib fortsetzte. Oder schlotterten ihm einfach die Glieder vor Angst? Er wurde langsamer. Dann blieb er ganz stehen. Nur noch zehn Stufen und das Schicksal würde ihn überrollen. Todesursache: Hochmut und mangelnde Rechenkünste. Und das ihm, dem Tüftler und Erfinder.
Dieser Gedanke fachte neue Wut in ihm an. Galar schleuderte seine Axt über die mahlende Säulentrommel hinweg die Treppe hinauf. Dann fasste er sich ein Herz. Er würde es zumindest versuchen und nicht einfach nur dastehen und sich plattwalzen lassen.
Noch drei Treppenstufen.
Er riss die Arme hoch. Einfach hochzuhüpfen war keine Option. Er rannte gegen die Trommel an. Legte die Hände flach gegeneinander und machte einen Hechtsprung. Das Gesicht voran schoss er über die Säule. Seine Knie krachten auf den Stein. Einen Herzschlag lang rutschte er nach hinten. Seine Hände griffen nach vorn, fanden Halt in der Riffelung der Säule. Er stieß sich nach vorne ab und prallte mit der Nase voran auf die Kante einer Stufe. Mit sprödem Knacken brach der Nasenknochen. Seine Lippen platzten, als er auf die nächsttiefere Stufe aufschlug. Sein Mund füllte sich mit Blut. Aus seiner Nase troff Blut und rann seinen Bart hinab.
Galar lehnte sich an die Wand und zog sich hoch. Der Schmerz in seinen Knien trieb ihm Tränen in die Augen. Ohne Stütze könnte er nicht stehen. Seitlich, im Krebsgang, den Rücken am rauen Fels, wankte er vier Stufen hinauf. Dann hob er seine Axt auf. Den lederumwickelten Griff in Händen zu halten gab ihm Kraft. Er lehnte sich zurück, atmete tief durch und versuchte, den Schmerz in den Knien einfach zu ignorieren.
Oben, am Ende der Treppe, sah er Schattengestalten. Waren sie neugierig, ihr Werk zu sehen? Erneut flammte Wut in ihm auf. Er war nicht tot! Jetzt war es an diesen verfluchten Drecksäcken zu sterben!
Er kämpfte sich vorwärts, biss die Zähne zusammen, dass sie wie Kiesel zwischen Mühlsteinen knirschten.
Über ihm ertönte ein erstaunter Ruf. Die Panik in der Stimme war unüberhörbar. Ihre Angst war Balsam auf Galars Wunden. Er stapfte voran, steifbeinig, immer wieder schwankend und doch unerbittlich.
Zum zweiten Mal war oben das Schleifen von Stein auf Stein zu hören. Sie rückten eine weitere Säulentrommel heran. Galar wusste, dass er nicht noch einmal davonkommen würde, hinkte schneller und strauchelte. Fluchend, auf die Axt gestützt, kämpfte er sich wieder auf die Beine. Noch etwa zwanzig Stufen. Deutlich sah er nun die Gesichter der Menschenkinder. Ein Grauhaariger mit Oberarmen, dick wie Oberschenkel, hatte das Kommando. Das musste der Steinmetz sein.
Deutlicher hörte Galar jetzt auch das Schleifen. Er sah, wie der stattliche Menschensohn gebückt an etwas zerrte.
Die Angst verlieh dem Schmied Flügel. Plötzlich war der Schmerz in den Knien vergessen. Schneller und schneller ging es voran. Kaum, dass er den Fuß auf die oberste Stufe setzte, ging der Grauhaarige mit erhobener Brechstange auf ihn los. Es war ein ebenso kraftvoller wie plumper Angriff. Galar duckte sich zur Seite und hämmerte dem Steinmetz den Griff seiner Axt in die Lederschürze.
Der Menschensohn stieß einen Laut aus, der wie das Zischen eines undichten Blasebalgs klang. Er taumelte von Galar fort. Die schwere Eisenstange entglitt seinen Händen.
Drei Gehilfen standen um den Meister versammelt. Allesamt kräftige, junge Kerle. Allesamt Handwerker, so wie er einer war, dachte Galar. Er wollte nicht gegen sie kämpfen!
Mit einem rasenden Schrei stürzte ein Jüngling, dem kaum der erste Flaum auf den Wangen wuchs, auf ihn los, mit nichts als einem Hammer bewaffnet. Galar unterlief ihn, rammte ihm den Kopf in den Magen und ließ seine Axt zur Seite schwingen, um die anderen auf Abstand zu halten.
Der verletzte Steinmetz sah kurz zu seinem Lehrling, der sich den schmerzenden Bauch hielt, und wollte nach der Brechstange greifen, die am Boden lag, doch Galar setzte den Fuß darauf. Er hob die Axt und deutete an, dass es ihm ein Leichtes wäre, den Grauhaarigen niederzumachen. Einen Moment lang begegneten sich ihre Augen. Die des Steinmetzen waren von hellem, frühlingshaftem Grün. Sein Gesicht, von den feinen Narben eines Lebens zerfurcht, in dem Steinsplitter in dieses Antlitz gespritzt waren. Er war ohne Zweifel ein harter, starker Mann. Doch der Menschensohn begriff auch, dass dieser Fremde ihm überlegen war. Dass Blut fließen musste, wenn er noch einmal versuchte anzugreifen.
Galar nickte in Richtung der Tür, die dem Durchgang, den er erstürmt hatte, gegenüberlag. Er las in den Augen des Steinmetzen, dass dieser verstanden hatte.
Der Menschensohn rief etwas. Seine Männer wirkten gleichermaßen überrascht wie erleichtert. Dann nahmen sie die Beine in die Hand und stürmten aus der Werkstatt.
Galar stützte sich mit einem erleichterten Seufzer auf die Säulentrommel, die bis fast an den Rand der Treppe gerückt war. Er war einfach zu zerschunden zum Kämpfen gewesen. Aber das war es nicht allein. Er hatte in dem Steinmetz ein Spiegelbild seiner selbst gesehen. Ein Handwerker, der mit dem Mut der Verzweiflung focht, als die Drachen kamen. Er tastete nach seiner Nase, und ein stechender Schmerz trieb ihm erneut Tränen in die Augen. Sie war gebrochen. Er zog den Rotz und das geronnene Blut hoch und spie es auf den Boden.
»He, ihr Schisser da unten! Ich hab den Weg frei gemacht. Kommt rauf.«
Dann sah er sich um. Die Steinmetzwerkstatt war erstaunlich groß. Eine Kaverne, mehr als zehn Schritt lang und fünf Schritt weit. Auf der einen Wand war ein Hochrelief begonnen worden. Eine Arbeit, die Schiffe vor einer Hafenstadt zeigte. Offensichtlich hatte der Künstler aber bald die Lust verloren. Sieben weitere Säulentrommeln in verschiedenen Stadien der Bearbeitung lagen herum. Der Boden war mit feinem Steinmehl und Hunderten Splittern bedeckt. Rechts neben dem Eingang gab es einen weiten Durchgang auf ein Felssims. Galar trat hinkend durch diesen Ausgang und blickte zum grauen Morgenhimmel. Immer noch kreisten Drachen über der Stadt.
Hoch über dem Sims ragte ein Kran über die Steilklippe hinaus. Soweit Galar sehen konnte, war er nicht vom Drachenfeuer beschädigt. Ein dickes Hanfseil reichte bis zum Sims hinab, auf dem noch acht weitere Säulentrommeln standen, offensichtlich bereit, hochgezogen zu werden, um ihren Platz in irgendeinem Prachtbau zu finden.
Galar betrachtete das Seil, das leicht in der Morgenbrise hin und her schwang. Wenn man halbwegs lebensmüde war und bereit, etwa vierzig Schritt hochzuklettern, gelangte man auf diesem Weg zu den unteren Ausläufern der Oberstadt. Galar blickte hinab. Er hielt etwas Abstand vom Rand des Simses, denn es gab keine Mauer oder auch nur ein Geländer. Es ging geradewegs in die Tiefe. Etwa achtzig Schritt? Er war nicht gut darin zu schätzen. Das dunkle Meer streckte weiße Gischtfinger den Fels hinauf.
Galar wurde ein wenig schwindelig, und er trat hastig einen Schritt zurück. Nein, in einen Abgrund zu blicken, das war nichts für ihn … Ein gellender Schrei unterbrach seine Gedanken. Vom Meer aus flog ein grüner Drache geradewegs auf ihn zu. Ein Bullenwürger! Leicht zu erkennen an den Hornplatten, die aufrecht, fast wie ein Krönchen, von seinem Kopf aufragten. Die Bestie riss das Maul auf.