Galar grunzte etwas Unverständliches.
»Ein Armbrustbolzen dreht sich im Flug um seine eigene Achse. Dieses Geschoss wird ein Loch so groß wie mein Handteller in einen Drachen reißen … Nein, kein Loch – es wird ein Tunnel durch sein Fleisch sein. Diese Pfeile können einen Drachen auf ganzer Länge durchschlagen. Das würde nicht einmal eine Himmelsschlange überleben.«
Der Schmied zog eine Grimasse. »Himmelsschlangen sind was Besonderes …«
»Ja, aber hier haben wir es mit ganz normalen Drachen zu tun. Sie sind zwar groß, aber wir werden sie vom Himmel holen!«
»Ganz sicher?«
Es schmerzte Nyr, die Qual in den Worten seines Freundes zu hören. Der Schmied hatte eine ganze Stadt dem Flammentod überantwortet, um Gelegenheit zu haben, Drachen zu töten. Es musste gelingen! Die Tyrannen mussten bluten! Und selbst das würde ihm sein Gewissen kaum erleichtern, auf dem nun Hunderte Tote lasteten, die er ihrer Fehde mit den Drachen geopfert hatte.
Der Geruch des Flammentods zog von der Stadt herab und nistete sich in Nyrs Nase ein. Es roch nach Gebratenem. Lange hatte er nach dem Untergang der Tiefen Stadt kein Fleisch mehr essen können. Der Geruch hatte ihn einfach nicht mehr verlassen wollen, als hätte das Feuer ihn in seine Nase eingebrannt. Das Fleisch der Menschen roch nicht anders als jenes der Zwerge damals.
Übelkeit stieg in ihm auf. Er versuchte, sich auf die Drachen zu konzentrieren. Ein Bullenwürger flog dicht an den Felsen vorbei. Er schien Galar misstrauisch zu beäugen. Dieses kleine Biest war kein Ziel, entschied Nyr. Er wollte einen großen Drachen, einen, bei dem es sich auch lohnte, den unersetzlichen Armbrustbolzen zu verlieren. Am liebsten einen der großen roten Sonnendrachen.
Nyr legte sich in Lauerstellung auf das abschüssige Sims, die Armbrust vor sich. »Deck mich zu«, forderte er Galar auf.
Sein Freund breitete die alte Wolldecke über ihm aus und streute Dreck und Steinsplitter darüber. »Sieht aus wie der Abfallhaufen einer Steinmetzwerkstatt«, erklärte der Schmied schließlich zufrieden.
Nyr hätte sich das Werk gerne selbst angesehen, doch hieße das, alle Arbeit zunichtezumachen. Er musste darauf vertrauen, dass Galar das schon hinbekommen hatte.
Der Schütze ertappte sich dabei, wie seine Finger nervös gegen den Schaft der Armbrust trommelten. Ganz ruhig, ermahnte er sich stumm. Alles wird gut gehen! Er atmete langsam aus und stellte sich vor, wie er mit der Waffe dem Flug eines Drachen folgte, vor ihn zielte, um seine Flugbewegung auszugleichen, und dann den Abzugshahn durchdrückte. Und dann? Es würde nur Augenblicke dauern, bis etliche Drachen herangeflogen kamen, um sich um ihren Gefährten zu kümmern. Sie würden oben in der Stadt nach dem Schützen suchen, aber auch in den Höhlen, die sich zum Meer hin öffneten. War sein Versteck sicher genug? Konnten sie ihn vielleicht durch die Wolldecke hindurch sehen? Einige der Drachen waren immerhin Zauberweber. Oder würden sie bemerken, wie sich die Decke leicht hob und senkte, wenn er atmete?
»Galar?«, flüsterte er.
»Hm. Was ist?«
»Gut, dass du noch nicht gegangen bist. Piss auf die Decke.«
»Was?«
»Du sollst über die Decke pinkeln. Wenn es hier stinkt und die Drachen denken, dass hier immer die Steinmetze austreten, dann werden sie vielleicht weniger genau hinsehen. Vielleicht rettest du mir so das Leben …«
»Ich rette dir das Leben, indem ich dich anpisse?« Galar stieß ein kurzes, abgehacktes Lachen aus. »Wie du willst.«
Nyr hörte es plätschern und spürte das warme Nass durch die Decke sickern. Er presste die Lippen zusammen. Es ging darum, einen großen Drachen zu töten und mit dem Leben davonzukommen.
»Sieh zu, dass du außer Sicht kommst!«, zischte er. Ein Rinnsal aus Pisse und Dreck floss an ihm vorbei und troff die Steilklippe hinab. Er hörte, wie sich Schritte entfernten. Hoch über ihm ertönten die schrillen Schreie der Drachen, die das Inferno feierten, das sie veranstaltet hatten. Verfluchte Brut, dachte Nyr. Ohne euch wird Albenmark ein besserer Ort sein.
In diesem Moment flog ein Drache mit zerfasernden gelben Flecken auf seinen weiten grünen Lederschwingen unter ihm vorbei. So einen hatte Nyr noch nie gesehen – doch auch er war zu klein. Es sollte einer der ganz Großen sein!
Warten. Die Zeit zog sich. Nyr betrachtete das Meer, das in prächtigem Türkis glänzte. Ein Stück vor der Steilklippe gab es eine karmesinrote Korallenbank. Manchmal sah er die Schatten großer Fische durch das klare Wasser gleiten. Eine Gestalt in einer sandfarbenen Tunika trieb im Wasser. Die Arme weit ausgebreitet, als wäre sie gekreuzigt worden. Vielleicht hatte sie versucht, sich durch einen Sprung von der Klippe vor dem Drachenfeuer zu retten.
Wieder zog der Drache mit den gelbfleckigen Flügeln unter ihm vorbei. Seine schmalen Augen musterten den Fels. Er suchte nach Beute.
Nyr folgte seinem Flug mit der Armbrust. Der Drache schwebte langsam, mit weit ausgebreiteten Schwingen. Er war etwa dreißig Schritt entfernt, kaum zehn Schritt unter Nyrs Stellung. Es wäre ein leichter Schuss. Er müsste nicht einmal vorhalten und berechnen, dass sich die Echse in der Zeit, in der der Armbrustbolzen flog, noch ein Stück vorwärtsbewegte. Nyrs Zeigefinger krümmte sich um den Abzugshebel. Er biss sich auf die Lippen. Die Versuchung war groß, er wollte endlich einen dieser Mörder fallen sehen.
Der Richtschütze atmete aus. Ließ los, sein Finger entspannte sich. Er brauchte ein lohnendes Ziel, einen … Da war er! Einer der großen Roten. Ein Fürst unter den Drachen! Ein Sonnendrache aus Ischemon. Er flog nicht weit hinter dem Gelbgefleckten. Schneller, aber nicht zu schnell. Nyr musste die Waffe nur ein winziges Stück zur Seite schwenken.
Der Zwerg zog den Abzug durch. Er hatte etwa drei Schritt vor den Drachen gezielt. Zu viel? Er schloss kurz die Augen und murmelte ein Stoßgebet. Ein schrilles Kreischen ertönte. Der rote Drache. Er trudelte. Seine Schwingen wirbelten kraftlos durch die Luft. Er drehte sich im Flug und stürzte rücklings der See entgegen. Einer seiner ledrigen Flügel wickelte sich halb um seinen Leib. Dann schlug er ins Wasser, sank und zog eine dunkle Wolke von Blut hinter sich her. Nyr sah, wie sich zwei Schatten durch das Wasser auf den Drachen zubewegten.
»Verrecke!«, murmelte er voller Inbrunst, zog die Armbrust unter seinen Leib und senkte den Kopf, sodass seine Wange auf dem kühlen Fels lag. Die Decke schob sich ein wenig vor. Dunkelheit senkte sich über ihn. Der dichte Stoff reichte nun auch vor seinem Gesicht bis auf den Boden. Seine Tarnung war vollkommen. Er war jetzt nur noch ein Häuflein aus Dreck und Steinsplittern, das nach Pisse stank. Kein Drache würde sich für ihn interessieren. Sie würden ihn nicht finden!
Nyr lauschte. Die Luft war erfüllt von Flügelschlagen. Er hörte Zischen und schrille, trillernde Schreie. Wie viele Drachen jetzt wohl da waren? Fünf? Zehn? Noch mehr? Konnte der Wind, den die mächtigen Schwingen aufwirbelten, seine Decke einfach zur Seite fegen? Angst fraß sich in seinen Magen, kroch durch sein Gedärm und sog die Kraft aus all seinen Gliedern. Er spürte die Böen der Flügelschläge. War da ein Schnuppern? Etwas platschte ins Wasser, so laut, wie ihre Aale ins Wasser geschlagen waren, als die Drachen sie abgeworfen hatten.
Versuchten sie, ihren toten Bruder aus dem Meer zu holen?
Plötzlich hörte er ein Kratzen auf Fels. Ganz nah. War einer der Drachen auf dem Sims gelandet? Da war noch ein anderes Geräusch. Ein Schnuppern, dicht hinter ihm. Hatte der Drache das Seil entdeckt, das zu seinem Knöchel führte?
Ein schriller Schrei erklang. Starker Wind peitschte über die Decke. Nyr war froh, dass er eingenässt war und so die Wolldecke umso mehr an seinem Körper pappte. Das Schnuppern hatte aufgehört. Jetzt hörte er die Drachen weit unten am Felsen. Was machten sie?
Nein, er durfte die Decke nicht anheben! Wie drängend das Verlangen auch war, zu sehen, was um ihn herum vor sich ging.