Sehr vorsichtig holte er einen weiteren Drachentöterbolzen aus seinem Köcher an der Hüfte. Er tastete im Dunkel nach der Armbrust und legte das Geschoss auf die Führungsschiene. Spannen konnte er die Waffe nicht. Die Sehne würde ausleiern, wenn er sie stundenlang unter Spannung hielt, ohne zu schießen.
Er dachte wieder an Frar, träumte sich fort von dieser verdammten Klippe in dieser verfluchten Welt, in der sie nichts zu suchen hatten. Er erinnerte sich, wie der Kleine hungrig an seinen Fingern genuckelt hatte. Wie tapfer er alles Ungemach erduldet hatte. Ihre Flucht, die Fahrten in den stinkenden Aalen, das nasskalte Gefängnis, das Glamirs Turm gewesen war. Ob er Frar jemals wiedersehen würde? Wohl nicht, solange Eikin in der Ehernen Stadt herrschte. Der Zwergenfürst hatte versucht, sie umzubringen. Und er würde es wieder tun, wenn sie in seine Nähe kamen.
Wie schon im Aal war Nyr klar, dass er nur mit Hornboris Hilfe den Jungen dort herausholen konnte. Und dass er sich genau deshalb mit dem unerträglichen Schleimer gutstellen musste. Der Schütze seufzte. Er war nicht wie Galar. Er würde Hornbori alles verzeihen, auch, dass er gewissenlos seine Männer in den Tod schickte, wenn er ihm nur ein paar Stunden mit dem Jungen schenkte.
Die Sonne stieg weiter den Himmel hinauf. Nyr spürte, wie ihre Strahlen die Decke trockneten. Sein Mund war nun staubtrocken. Er hatte keine Wasserflasche. Er würde das aushalten. Ebenso wie den Gestank der eintrocknenden Pisse. Schweiß sammelte sich in seinem Nacken.
Irgendetwas hatte sich verändert! Nyr lauschte angespannt – er hörte kein Flügelschlagen mehr. Waren die Drachen wieder oben über der Stadt? Nur ein tiefer, kehliger Laut, der auf- und abschwoll, war zu vernehmen. Sangen sie ein Totenlied? Trauerten die Bestien? Vorsichtig hob der Zwerg die Decke einen Fingerbreit an. Er musste es wissen. Zum Henker mit der Vorsicht. Die Bestien würden es schon nicht merken!
Als Erstes sah er Himmel und ein Stück Meer dicht beim Horizont. Er müsste näher an die Kante des abschüssigen Simses rutschen, wenn er sehen wollte, was unten an der Steilwand vor sich ging. Kurz verharrte Nyr. Hatte einer der Drachen etwas bemerkt, als er die Decke gehoben hatte? Die Zeit dehnte sich endlos, bevor er es wagte, einen Zoll weit nach vorne zu rutschen. Dann noch einen und noch einen. Endlich konnte er auf die schäumende Gischt am Fuß der Klippe blicken. Der tote Drache lag auf einem flachen Felsen, der sich zwei Schritt über das Wasser erhob. Daneben kauerte ein zweiter roter Drache. Er brachte die kehligen Laute hervor. War es das Weibchen? Es war größer als die Bestie, die er erlegt hatte. Vielleicht das Muttertier? So lange er nun schon Drachen jagte, er wusste fast gar nichts darüber, wie sie zusammenlebten. Gab es Familien? Fanden sie sich nur für die Brut und die Aufzucht der Jungen zusammen?
Nyr sah hoch und entdeckte noch zwei Drachen. Mit weit ausgebreiteten Schwingen segelten sie hoch am Himmel im Aufwind über der brennenden Stadt. Waren die anderen auch dort oben, außerhalb seines Gesichtsfelds?
Er hatte ein gutes Schussfeld auf den trauernden Drachen. Vorsichtig begann er die Kurbel der Windenarmbrust zu drehen. Das leise metallische Klicken erschien ihm so laut wie Trommelklang. Unten schlug die Brandung gegen den Fels. Unmöglich, dass der Drache das Geräusch hörte!
Mit einem scharfen Klacken rastete der Sehnenzug ein. Die Waffe war wieder gespannt.
Der Drache hob den Kopf.
Er konnte ihn nicht gehört haben, dachte Nyr, und doch blickte die Bestie geradewegs zu ihm herauf.
Einen Wimpernschlag später weitete der Sonnendrache die Flügel. Sprühwasser der Brandung perlte von den mächtigen Lederschwingen. Immer noch sah ihm das Ungeheuer unverwandt in die Augen. Es stieß keinen Schrei aus, fauchte nicht. Langsam hob es vom Fels ab.
Nyr sah, wie sich der Hals des Drachen aufblähte wie ein Blasebalg. Der Sonnendrache würde jeden Augenblick einen Flammenstrahl speien.
»Scheiß der Hund drauf!«, zischte Nyr, warf die Decke zur Seite und richtete sich auf. Sollte die Bestie nur sehen, wer ihrem Gefährten das Leid angetan hatte. Er hob die Armbrust in fließender Bewegung zur Schulter, verharrte einen Herzschlag und zog den Abzugshebel durch.
Der Bolzen traf den Drachen dicht oberhalb der langen Schnauze, knapp eine Handbreit unter den Augen. Die Bestie war noch zwanzig Schritt unter ihm. Nyr hatte schräg von oben getroffen. Mit angehaltenem Atem sah er zu, wie das mörderische Geschoss den riesigen Schädel durchschlug, ohne an Wucht zu verlieren. Der Zwerg wusste, wie die Schussbahn weiterverlaufen würde: Der Bolzen hatte beim Aufprall die seitlichen Klingen ausgefahren. Er würde sich nun durch die Kehle abwärts, an Herz und Lunge vorbei fräsen, um dann irgendwo im Bauchbereich wieder auszutreten.
Der Sonnendrache stieß einen gurgelnden Laut aus. Schrittlange Flammen spielten um sein Maul und seine Nüstern. So heiß, dass Nyr trotz der Entfernung ein Stück zurückwich. Es sah aus, als hätte der Drache sich an seinem eigenen Flammenstrahl verschluckt. Obwohl eine Blutfontäne aus seinem Unterleib sprühte, lag blanker Hass in seinem Blick. Wütend schlug er mit den Flügeln und kämpfte sich höher.
Nyr wich weiter zurück. Er drehte die Winde auf seiner Armbrust, bis der Abzug einrastete. Die Finger, die nach dem Ledersack mit den Bolzen griffen, zitterten. Er hatte keinen Drachentöterbolzen mehr!
Eine riesige Kralle griff nach dem Sims. Dann tauchte der Kopf des Drachen auf. Allein die Schnauze war mehr als zwei Schritt lang. Die Bestie könnte ihn mit einem einzigen Bissen verschlingen. Der Drache keuchte, und heißer Atem schlug Nyr ins Gesicht.
Warum spuckte die Bestie kein Feuer? Fehlte ihr die Kraft?
Die Pupillen des Sonnendrachen waren nur noch fingerbreite Schlitze. Seine Augen drehten sich nach oben. Blut troff ihm aus den Winkeln des Mauls. Er bleckte die dolchlangen Reißzähne. Auch sie waren von Blut benetzt.
Plötzlich rutschten die Pupillen nach oben. Die Augen waren nur noch schwefelgelb, durchzogen von einem Netz feiner roter Adern. Knirschend glitt die Kralle auf dem Fels zurück. Der Drache stürzte, fiel hinab in die Tiefe, ohne noch einen Laut von sich zu geben.
Nyr stand mit dem Rücken am Fels, dicht neben dem Durchgang zur Steinmetzwerkstatt. Er atmete schwer. Zwei Sonnendrachen, zwei Mörder weniger … Er fühlte sich müde, nicht erleichtert oder stolz. Seine Hand am Beutel mit den Bolzen zitterte immer noch.
Als ihn ein Windstoß fast umwarf, sah er nach oben. Sein ganzes Gesichtsfeld von gelb gefleckten Flügeln ausgefüllt. Im nächsten Moment traf ihn ein Schwanzhieb quer über die Brust, schleuderte ihn zu Boden und ließ ihn auf der Rampe dem Abgrund entgegenschlittern, bis die Fangleine an seinem Knöchel sich spannte und kurz vor der Kante den Sturz ins Meer verhinderte.
Grelle Lichtpunkte tanzten Nyr vor den Augen. Er rang um Atem, tastete nach der Armbrust, die ihm aus den Händen geglitten war. Benommen sah er, wie der Drache eine weite Kehre flog und seine Schwingen aufspreizte. Gleich würde er auf dem Sims landen, um ihm den Rest zu geben.
Nyr setzte sich auf. Ihm wurde übel, und sein Kopf sackte ihm auf die Brust. Schon knirschten Krallen über Fels. Er zwang sich, nach oben zu sehen. Das verdammte Biest klammerte sich ans Sims. Es faltete die Flügel zusammen und streckte seinen langen Hals vor. Geifer troff ihm von den Lefzen. Nyr zog seinen Dolch. Er würde nicht kampflos sterben!
Der Drache vor ihm war um einiges kleiner als die Sonnendrachen. Dicke Hornplatten schützten seinen langen, keilförmigen Kopf. Er ließ die Kiefer auf- und zuklappen, zeigte sein Arsenal an Reißzähnen, als wollte er mit seinem lächerlichen Getue Nyr verhöhnen. Die Bestie hielt den Kopf dicht über dem Felsboden. Sie war klug! So war es unmöglich, ihre weniger geschützte Kehle zu erreichen.
Nun legte sie den Kopf schief, sah ihn aus bernsteinfarbenen Augen an.
Wenn er eines dieser Augen erwischte, könnte er sie vielleicht töten, dachte Nyr. Aber er würde niemals nahe genug herankommen, da auf dem Sims kein Platz war, um zur Seite auszuweichen. Es gab nur eine einzige Hoffnung, er musste den Dolch werfen! Nyr wechselte den Griff. Das Vieh durfte nicht erahnen, was er vorhatte. Er grinste es an. »Wir kämpfen doch auf derselben Seite. Was willst du von mir?«