Nur wenige Lampen brannten. Der notdürftige Verbandsplatz lag in einer lang gestreckten Höhle. Shaya fielen seltsame, mit Kupferstangen vergitterte Löcher auf, durch die angenehm kühle Luft aufstieg. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, wo diese Höhle lag. Wohl irgendwo tief im Herzen des Berges. Aber woher kam dann die frische Luft, die von unten in die Höhle strömte?
Als Saham die kreisenden Bewegungen auf ihrem Rücken beendete, wandte sich Shaya wieder ihm zu. Der alte Mann wischte sich die Hände an seiner schmuddeligen Tunika ab. »Ich werde jetzt versuchen, etwas zu essen für Euch zu finden, Herrin. Das wird ein wenig dauern. Am besten, Ihr schlaft noch.«
Sie lächelte ihm zu. »Ja, das ist sicher am besten. Und danke, Saham. Du bist ein guter Freund.«
Er grinste sie an. Es war unübersehbar, wie gut ihm das Kompliment getan hatte.
»Sagst du mir noch, wie lange ich geschlafen habe?«
»Eine Nacht und einen Tag, Herrin. Nun ist die zweite Nacht hereingebrochen.«
»Und die Drachen? Wie steht die Schlacht?«
»Arcumenna hat sie vertrieben und die Angriffe der Daimonen zum Stehen gebracht. Ihr müsst Euch keine Sorgen machen, Herrin, hier unten seid Ihr sicher. Ihr …« Er runzelte die Stirn. »Ihr denkt doch nicht etwa daran zu kämpfen?«
Sie lachte und wurde sofort mit reißenden Schmerzen im Rücken bestraft. »Nein, natürlich nicht. Keine Sorge, ich werde nicht mit dem Schwert in der Hand in die Tunnel stürmen.« Obwohl sie gelacht hatte, war Shaya besorgt. Anfangs waren die Anspielungen darauf, dass sie eine Kriegerin sei, nur Scherze gewesen, weil sie so selbstbewusst neben Arcumenna aufgetreten war. Aber jetzt war sie sich nicht sicher, ob Saham es ernst meinte. Auch er musste ihre Narben aus den Kämpfen im weiten Grasland und an den Himmeln Nangogs gesehen haben.
Für den Augenblick jedoch wirkte der alte Pfleger erleichtert. Er nahm sie beim Wort. »Mindestens etwas Brot werde ich auftreiben. Vielleicht auch ein wenig Käse oder einen Apfel. Bleibt einfach hier, Herrin, und ruht Euch aus.«
Schrille Schreie erklangen. Als Shaya ihren Kopf drehte, sah sie, dass Enak tief in das Fleisch oberhalb des Armgelenks des verwundeten Kriegers geschnitten hatte. Nun griff er nach der Knochensäge. Zwei Mann waren nötig, um den Krieger zurück auf den Tisch zu drücken. Enak wischte sich mit der blutigen Hand über die Stirn. Er sah verzweifelt aus. Für diese Art der Heilung war er nicht geschaffen.
Saham war nirgends zu sehen, also setzte sich Shaya auf. Sie würde kein Schwert aufnehmen, was das anging, hatte sie nicht gelogen. Aber sie würde niemals aufhören zu kämpfen. Die Männer hier brauchten sie. Sie durfte die Verwundeten nicht allein Enak überlassen.
Sie griff nach dem verbrannten Fetzen, der einmal ihr Kleid gewesen war, und streifte ihn über. Als sie dabei die Arme anhob, traten ihr Tränen in die Augen, so sehr schmerzte ihr Rücken. Keuchend stemmte sie sich auf die Beine. Sie musste die Schmerzen besiegen. Steif ging sie zum Tisch, an dem Enak am Oberarmknochen des Kriegers sägte. Der Verletzte kämpfte nicht mehr länger gegen seine Peiniger an. Er war ohnmächtig geworden.
Shaya stützte sich schwer auf dem Tisch auf.
Enak hielt inne und sah sie erschrocken an. »Du solltest …«
Ein Blick von ihr genügte, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Hast du ihm Laudanum gegen die Schmerzen gegeben?«
»Natürlich!« Der junge Heiler sah sie entrüstet an. »Das ist doch wohl …«
»Wo ist es?«
Er nickte in Richtung eines jungen Manns, der fest die Augen zugekniffen hielt, um nicht zu sehen, was hier vor sich ging. Gut, dachte Shaya beeindruckt. Enak hatte dafür gesorgt, dass der Flakon nicht von einem um sich schlagenden Verwundeten vom Tisch gefegt werden konnte.
Sie wandte sich an einen der Krieger, die eben noch den bewusstlosen Amputierten gehalten hatten. »Du wirst mir einen Tisch besorgen. So groß wie dieser hier.« Sie wies auf die blutbeschmierte Holzplatte. »Besser noch etwas länger, sodass ein Mann ganz darauf liegen kann und die Beine nicht herabhängen.«
»Du hast mir nichts zu sagen, Weib«, grollte der Mann. »Du …« Blut sickerte aus einer tiefen Schnittwunde dicht unter seinem Haaransatz. Er sprach mit starkem Akzent. Wahrscheinlich ein Drusnier, der die Seiten gewechselt hatte.
»Sie ist …«, begann Enak zaghaft.
Shaya schnitt dem jungen Heiler mit einer harschen Geste das Wort ab. Dann sah sie dem Krieger in die Augen. »Du solltest den Göttern danken, dass ich dich schicke, einen Tisch zu suchen. Glaubst du, ich weiß nicht, dass Männer, die Verwundete vom Schlachtfeld tragen, mehr bewegt als reine Barmherzigkeit? Der Schnitt an deiner Stirn ist mit ein paar Stichen genäht. Dann kannst du zurück in die Schlacht. Arcumenna braucht sicher jeden Mann.«
Der Krieger erbleichte. Seine Hand fuhr zum Schwert.
»Um gegen ein Weib zu kämpfen, reicht dein Mut also noch.«
»Du verdammte Schlampe!« Als er die Waffe aus der Scheide riss, fiel ihm sein Gefährte in den Arm und zog ihn zurück.
Shaya nahm eines von Enaks Messern vom Tisch und baute sich breitbeinig vor den beiden Kriegern auf. »Du hast jetzt zwei Möglichkeiten, Drusnier. Entweder du bist ein kluger Mann, schiebst dein Schwert in die Scheide und tust fortan, was ich sage. Oder du legst dich mit einem zierlichen Weib mit einem Messer in der Hand an. Stichst du mich nieder, gewinnst du keinen Ruhm. Sollte ich aber gewinnen, wird der Spott deiner Kameraden ewig währen. Deine Entscheidung!«
Ohne zu zögern, holte er mit der Waffe aus. Er versuchte, mit der breiten Seite des Schwertes ihre Hand zu treffen, um ihr das Messer aus den Fingern zu prellen. Genau damit hatte Shaya gerechnet. Sie ließ die Klinge sinken. Das stählerne Schwert schnitt wirkungslos durch die Luft. Blitzschnell trat sie vor und setzte ihm das Messer in den Schritt. »Irgendwie hatte ich schon den Verdacht, dass du kein kluger Mann bist.«
Gelächter erklang. Alle in der Höhle sahen ihnen zu.
»Du hast erneut die Wahl. Lass deine Waffe fallen, und sie wird fortan mir gehören. Oder behalte sie, und etwas anderes wird zu Boden fallen, und du wirst aufhören, ein Mann zu sein.«
»Das wagst du nicht!« Der Krieger stank nach saurem Wein. Er hatte sich vor den Kämpfen oben in der Stadt Mut angetrunken. Ein dämlicher Fehler, den allerdings die Hälfte aller Männer machte, denen sie begegnet war. Auch wenn er sich trotzig gab, sah sie die Angst in seinen großen himmelblauen Augen.
»Kannst du es riskieren, dich noch einmal in mir zu irren?« Sie verstärkte den Druck der Klinge und spürte, wie sie durch die grobe Wollhose schnitt.
Der Krieger keuchte auf. Klirrend fiel sein Schwert zu Boden.
»Deine erste kluge Entscheidung. Nun nimmst du deinen Kumpel, und ihr beide sucht mir den Tisch, um den ich euch vorhin gebeten hatte. Und wenn ihr ihn gefunden habt, habe ich noch weitere Aufgaben für euch. Solltest du aber glauben, du könntest dich einfach verdrücken, dann sei dir sicher, ich werde dich finden, und dann bringen wir zu Ende, was wir hier begonnen haben.« Sie trat einen Schritt zurück.
Im Gesicht des Drusniers spiegelten sich Angst und Zorn.
Shaya setzte einen Fuß auf die Klinge am Boden, damit der blonde Trottel nicht auf die Idee kam, Dummheiten zu machen.
Der Krieger warf Enak einen verzweifelten Blick zu.
»Du machst besser, was sie sagt, denn du kannst dich darauf verlassen, dass sie immer Wort hält. Üblicherweise rettet sie Leben – aber wer das tut, weiß auch, wie man Leben nimmt.« Während er das sagte, hob er beiläufig seine blutigen Hände, was seine Wirkung nicht verfehlte. Die beiden Krieger machten sich auf den Weg.
Kaum war die Gefahr überstanden, meldete sich der sengende Schmerz in Shayas Rücken zurück. Sie musste sich an den Tisch lehnen und die Hände aufstützen, um zu verbergen, wie schlecht es ihr ging.