Endlich erreichten sie eine Treppe, die sich entlang einer weiten Felssäule nach oben wand. Überall im Hafen brannten inzwischen Schiffe. Die Hitze wurde immer unerträglicher. Die Höhle würde zu einem riesigen Backofen werden, wenn erst einmal die ganze Flotte brannte. Niemand hier unten konnte darauf hoffen zu überleben.
Dunkler Rauch zog in wirbelnden Spiralen an ihnen vorbei. Er schien von der Öffnung in der Höhlendecke über ihnen förmlich angezogen zu werden.
Nodons Augen brannten. Tränen rannen ihm über die Wangen. Solaiyn hustete und rang keuchend um Atem. Sie eilten die Treppe hinauf. Ohne Geländer schmiegte sie sich an die riesige Felssäule. Immer wieder führte sie die Spirale am Wasser vorbei. Jetzt, aus der Höhe, war überdeutlich zu sehen, was sich im Hafen abspielte. Wie die Flammen auf immer neue Schiffe übergriffen.
Vor ihnen lag ein Zwerg auf den Stufen hingestreckt. Er hielt mit beiden Händen die Kehle umklammert, als versuchte er, einen unsichtbaren Würgegriff zu sprengen. Sein Mund war weit aufgerissen wie bei einem Fisch, der auf dem Trocknen lag. Er sah sie flehend an.
Nodon stieg mit einem weiten Schritt über ihn hinweg. »Weiter!«, drängte er den Fürsten, wohl wissend, dass ihnen das schlimmste Stück des Weges noch bevorstand.
Dreißig Schritt oder mehr befanden sie sich nun schon über dem Wasser des Hafenbeckens. Die Hitze unter ihnen nahm immer weiter zu. Doch etwas hatte sich verändert: Der Rauch zog nicht länger an ihnen vorbei. Stattdessen strich ein kühler Luftzug aus dem Treppenschacht über ihnen herab, streichelte ihre Gesichter, spielte mit dem zarten Stoff ihrer Gewänder. Ein leises Heulen begleitete den Wind. Ein dunkler, Unheil verkündender Ton.
Nodon kam der absurde Gedanke, dass das Feuer unter ihnen atmete. Dass es Luft durch den Treppentunnel sog.
Noch während er das dachte, gewann die Brise an Stärke. Das Heulen wurde lauter.
»Hinab!« Wie aus dem Nichts stand Aloki plötzlich neben ihnen. Die Schlangenfrau deutete zum Hafen hinunter, auf dessen schwarzem Wasser tosende Flammen tanzten. »Hinab! Schnell!« Sie griff nach Solaiyn.
»Wir müssen durch den Tunnel!«, beharrte Nodon.
Plötzlich verschwamm die Gestalt der Schlangenfrau vor seinen Augen. Ein Schlag traf mit so großer Wucht auf sein rechtes Handgelenk, dass sich sein Griff öffnete. Im nächsten Augenblick sah er Solaiyn und die Schlangenfrau den dunklen Fluten entgegenstürzen.
Wie hatte sie ihn so übertölpeln können? Das musste der Zauber sein, den auch Bidayn zu weben vermochte!
Solaiyn stieß einen gellenden Schrei aus, der abrupt abbrach, als die beiden vom Wasser verschlungen wurden.
Nodon zögerte. Er war der Leibwächter des Fürsten. Er sollte hinterherspringen. Doch überall krochen Flammenteppiche über das Wasser.
Der Wind, der von der Treppe hinabpfiff, war noch stärker geworden. Nodon hob den Kopf und sah, wie sich einige Zwerge mit vorgebeugten Köpfen durch den Eingang in den Fels kämpften. Der Sturm, den das Feuer entfesselt hatte, zerrte und zupfte an ihren Kleidern, als wollte er sie ihnen von den Leibern reißen.
Nodon wandte sich ab und beugte sich zögerlich vor, um besser zum Hafenbecken hinabblicken zu können. Aloki und Solaiyn tauchten nicht wieder auf. Sie waren …
Kaskaden schäumenden Wassers schossen aus der Decke der Hafenhöhle.
Der Elf riss schützend die Arme vor sein Gesicht. Statt das Feuer zu löschen, fachte das Wasser es an! Ohrenbetäubendes Zischen wurde hundertfach von den Wänden der weiten Höhle zurückgeworfen. Eine Flammenwolke stieg vom Wasser auf, weitete sich aus, füllte die Höhle gänzlich aus.
Nodon hielt den Atem an, dennoch versengten kochendes Wasser und heiße Fetttröpfchen seine Naseninnenwände. Glühende Luft drängte ihm mit Gewalt in Mund und Kehle. Er biss die Zähne zusammen, presste die Lippen aufeinander und zwang sich, nicht zu schreien. Sein Innerstes würde gekocht werden, wenn er den Mund aufriss. Er durfte nicht …
Eine sengend heiße Faust traf ihn. Riss ihn mit sich, wie Sturmwind ein Herbstblatt davonträgt. Er wirbelte durch die Luft. Spürte, wie seine Haut durch die Kleidung hindurch verbrannte. Hatte das Gefühl, dass die Tränen in seinen Augen zu kochen begannen.
Dann schlug er ins Wasser. Und auch das brachte keine Linderung. Er sank, durfte immer noch nicht den Mund öffnen. Er bewegte sich. Wollte nach oben. Wollte auftauchen, doch wusste nicht, wo oben und unten war. Seine Augen versagten ihm den Dienst. Zeigten immer noch gleißendes Licht. Vorsichtig bewegte er sich. Dabei fühlte es sich an, als wäre ihm seine Haut zu eng geworden. Allumfassender Schmerz umfing ihn. Ein Schmerz, wie er ihn noch nie gekostet hatte. So durchdringend, so intensiv, dass er die baldige Erlösung von allen Qualen verhieß.
Unter Drachenschwingen
Kühle Lippen berührten seinen Mund. Warmer Atem drängte in seine Kehle. Ein starker Arm umfing ihn. Die Umklammerung entfachte den Schmerz, riss Nodon aus seiner Benommenheit. Er wurde im Wasser emporgehoben.
Über ihnen wütete wogendes Licht. Nichts war deutlich zu erkennen. Bis auf eine dunkle Linse direkt über ihnen. Was er sah, war wie das Auge Alokis. Unstetes Gelb, das eine geschlitzte Pupille umschloss. Er fantasierte. Nur der Schmerz, dort, wo der starke Arm ihn umschlungen hielt, war real.
Nodon schloss die Augen. Seine Brust wurde ihm wieder eng. Atmen … Dem Wasser gestatten, dorthin zu dringen, zu fließen, wo nur Atem sein sollte. Das wäre Erlösung. So leicht wäre es, die Pein zu beenden.
Er öffnete die Augen. Die Pupille wuchs an. Er fiel ihr entgegen. Schneller und schneller. Jetzt füllte das Dunkel fast sein ganzes Gesichtsfeld. Sein Kopf erhob sich über das Wasser. Er war umfangen von stickiger Finsternis. Seine Hände tasteten über etwas Raues. Holzmaserung?
»Wo bin ich?« Sein Mund brannte. Ein öliger Geschmack hatte sich darin eingenistet. Nodon hörte ängstliches Atmen.
»Ein umgestürztes Fischerboot«, erklärte eine zischelnde Stimme. »Wir werden unter dem Rumpf nicht lange sicher sein. Wahrscheinlich hat das Holz schon Feuer gefangen. Pass auf Solaiyn auf. Halt ihn fest!«
Nodon spürte die Hitze durch das Holz. Das Boot bewegte sich. Wieder einmal war er überrascht von der Kraft und Schnelligkeit der Schlangenfrau.
Kein Licht drang durch den Rumpf. Es war finster wie inmitten eines Bergs.
Solaiyn tastete nach ihm, klammerte sich an seine Arme. »Nodon? Du wirst mich retten, nicht wahr? Du bringst uns hier heraus.«
»Ja«, krächzte er. Sein Mund und seine Zunge schmerzten.
»Es tut so weh«, jammerte Solaiyn. Die Stimme des Fürsten hatte sich verändert. Sie klang heller, fast wie die eines Kindes.
Etwas schlug hart auf den Bootsrumpf. Begann die Höhle einzustürzen? Ließ die Hitze den Fels der Decke aufplatzen? Solaiyn schluchzte leise. Er schmiegte seinen Kopf an Nodons Wange. Das Gesicht des Feldherrn fühlte sich klebrig an. Der Schwertmeister war froh, es nicht sehen zu müssen.
Aloki blieb still. Nodon hörte sie kaum atmen. Er hatte einmal eine große Wasserschlange in den Mangroven des Waldmeers gesehen. Sie hatte sich voller Anmut und erstaunlich schnell durch das flache Wasser bewegt. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Schlangenfrau mit kraftvollen Schwanzbewegungen das Boot antrieb.
Im Hafen erklangen keine Schreie mehr. Auch das Tosen des Feuers war durch das Holz des Bootsrumpfs kaum zu hören. Nur ab und zu vernahm Nodon das Geräusch von Felsbrocken, die ins Wasser stürzten. Es war jetzt weniger warm, und er glaubte die Kraft der Flut zu spüren, die frisches Meerwasser in den brennenden Hafen drückte.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Aloki ermüdete nicht. Nicht einmal ihr Atem ging unruhig. Ihre Ausdauer schien unerschöpflich zu sein. Nur die Luft unter dem Boot wurde schlechter. Nodon hatte das Gefühl, immer schneller atmen zu müssen. Solaiyn hechelte wie ein Hund. Dann drang ein neues Geräusch zu ihnen vor. Das Tosen der Brandung.