Nandalee genoss die Ruhe. Die letzten Tage hatte sich Eleborn daran versucht, die Wand neben dem Stall mit einem Relief zu schmücken. Stunden um Stunden hatte er gearbeitet. Der Hof hatte vom Klang des Hammers, der auf den Meißel traf, widergehallt. Selbst jetzt hatte sich der Staub, den Eleborn bei der Arbeit am Stein aufgewirbelt hatte, noch nicht gänzlich gelegt. Der Geschmack von Stein lag ihr auf der Zunge.
»Pling. Pling!« Emerelle lachte. Sie versuchte, das Geräusch des Hammers nachzumachen.
»PLING!«
Nandalee sah reflexartig zu der Wand, an der das Bild im Stein entstand. Da war niemand! Doch das Geräusch hatte sich so echt angehört, als wäre wirklich gerade ein Hammer auf einen stählernen Meißel geschlagen.
»PLING.«
Meliander! Er war es, der dieses Geräusch nachahmte. Wie …? Nandalee zwang sich, nicht aufzustehen. Es war nicht das erste Mal, dass er sich seltsam verhielt. Nicht wie ein Kleinkind. Wie sollte sie damit umgehen? Immer fragte sie sich das. Wie sollte sie mit seiner Verstümmlung umgehen? Wie hatte so etwas in ihrem Leib geschehen können?
Emerelle gab es auf, das Geräusch der Steinmetzarbeit nachzuahmen. Sie ließ sich vornüberkippen, streckte die Arme vor, landete auf den Handflächen und begann, mit erstaunlicher Geschwindigkeit zu dem Haufen von Steinsplittern vor dem Stall zu krabbeln.
Der Blick, mit dem Meliander seiner Schwester nachsah, brach Nandalee schier das Herz. Er würde niemals krabbeln, so verstümmelt wie er war. Manchmal war er unbeholfen auf dem Bauch gerobbt. Seit jedoch seine Schwester krabbelte, saß er nur noch. Er hatte es aufgegeben, sich auf diese Art fortbewegen zu wollen.
So denkt kein Kleinkind, ermahnte sich Nandalee. Es war Zufall! Aber dieser Blick von Meliander. Er wirkte so verständig. Und unheimlich …
Das Licht im Hof wurde blasser. Es verlor von seiner Strahlkraft. Meliander blickte zum Tor und lächelte. Nandalee wandte den Kopf. Sah den Schatten, der fast mit dem Dunkel verschmolz. »Was willst du?«
Statt zu antworten, trat Nachtatem auf den Hof. Er hatte Elfengestalt angenommen, wie stets, wenn er in die Nähe der Kinder kam.
Emerelle ließ davon ab, weiter in Richtung des Schutthaufens zu krabbeln. Sie wandte den Kopf und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Dann krabbelte sie dem Erstgeschlüpften entgegen.
Meliander stieß einen unwilligen Laut aus, als würde er nicht wollen, dass seine Schwester den Drachen erreichte. Immer öfter hatte Nandalee das Gefühl, dass ihr Sohn sich zum Dunklen hingezogen fühlte.
Als Emerelle innehielt und ihren Bruder ansah, war sich Nandalee ganz sicher, dass die beiden sich auch ohne Worte verständigen konnten. Manchmal sahen sie sich beunruhigend lange an und nickten dann. Genau im gleichen Augenblick, als hätten sie in stummem Zwiegespräch etwas vereinbart.
Der Dunkle nahm keine Notiz von den beiden. Er betrachtete die Arbeit Eleborns. Der Elf hatte ein Muster ineinander verschlungener Linien in den Stein geschlagen. Keine Gestalt. Keine Blüte.
»Er wird daran scheitern, die Welt zu einem schöneren Ort zu machen«, sagte er, und mit einem Blick auf Meliander fügte er hinzu: »Eleborn schafft es nicht einmal, hier Vollkommenheit einziehen zu lassen.«
»Wie kannst du es wagen?«, fuhr Nandalee ihn an. »Er ist …«
Der Dunkle hob das Haupt. Sein Blick traf sie. Seine Augen hatten das Blau eines Winterhimmels, der sich in Eis spiegelt. Sie stahlen ihr die Worte, machten sie sprachlos. Doch ihre Wut konnten sie ihr nicht nehmen.
»Ich meinte nur das … Werk. Eleborns Arbeit. Meliander kann er nicht helfen. Das weiß ich so gut, wie Ihr es wisst, meine Dame.«
Nandalee hasste diese gestelzte Höflichkeit.
»Was willst du?« Sie war sich sehr wohl bewusst, dass er es nicht mochte, dass sie so direkt und formlos sprach.
»Nun, da ich nicht davon ausgehe, dass Ihr mir Euer Ohr leihen werdet, wenn ich Euch um eine Gefälligkeit bitte, und da ich weiß, dass ich noch weniger auf Eure Unterstützung hoffen dürfte, wenn ich Euch einen Befehl geben würde, bin ich gekommen, um Euch darum zu bitten, Meliander zu helfen.«
Nandalee schwieg. Was wollte der Dunkle von ihr? Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Emerelle in seinen Schatten kroch. Den Schatten, der zu lang und zu finster war. Der alte Drache lächelte auf das Mädchen hinab. Er sah sie seltsam an, und Nandalee hatte das Gefühl, dass er um Emerelles Zukunft wusste. Sie schob den Gedanken beiseite. Er würde sein Wissen sicherlich nicht mit ihr teilen, so wie sie ihn behandelt hatte. »Was kann ich für Meliander tun?« Die Elfe bemühte sich, ein wenig höflicher zu klingen.
Nachtatem ging in die Hocke und streckte Emerelle eine Hand hin. Sie kroch weiterhin auf ihn zu. Ganz ohne Scheu.
»Es gibt einen Weg, Meliander zu heilen, meine Dame. Vielleicht muss er etwas älter sein, damit es gelingen kann. Er sollte sich bereits darüber bewusst sein, wer er ist und was er will. Dann besteht Hoffnung für ihn.«
Emerelle hatte Nachtatem erreicht. Sie legte ihre Hand in die seine und gab einen leisen, vergnügten Laut von sich.
Nandalee rang mit sich. Sie hatte sich geschworen, nie wieder für ihn zu kämpfen. Und sie war sich vollauf bewusst, dass sie diesen Eid brechen würde, wenn sie fragte, was er von ihr wollte. Vielleicht erwuchs Meliander wirklich ein Vorteil aus der Mission, in die er sie hineinziehen wollte, aber sie kannte die Himmelsschlangen nun gut genug, um zu wissen, dass stets sie es waren, die am meisten gewannen, wenn Drachenelfen für sie töteten. Auch wenn dies nicht immer auf den ersten Blick offensichtlich war.
»Wovon sprecht Ihr?« Sie schaffte es nicht, freundlich oder gar demütig zu klingen, aber sie fügte sich wenigstens dem formalen Getue, auf das die Drachen so großen Wert legten.
Nachtatem sah zu ihr auf. Ein flüchtiges Lächeln spielte um seine Lippen. Deutlich spürte sie den Zauber, der ihn umgab. Sie hatte an seinen Gefühlen teil. Seine Freude war echt, und obwohl sie es besser wusste, berührte sie, was er empfand. Sie war sich bewusst, dass er genau das wollte: Sie zu manipulieren, nur dazu hatte er sie und all die anderen Drachenelfen in der Weißen Halle erschaffen.
Er nahm Emerelle auf den Arm. Das Glücksgefühl, das von ihm ausging, wurde noch stärker. Auch ging Wohlgeruch von ihm aus, der Gefühle in ihr weckte, von denen sie geglaubt hatte, sie längst aus ihrem Herzen gerissen zu haben. Sie musste an die Nacht denken, in der er sie tätowiert hatte. Die Nacht, in der sie sich ihm unterworfen hatte wie niemals zuvor und danach. Den köstlichen Schmerz, den sie empfunden hatte, den Rausch der Sinne. Sie fühlte sich schlecht bei der Erinnerung daran. Sosehr sie Gonvalon geliebt hatte, so war es mit ihm nie gewesen.
Nachtatem ging zu Meliander, kniete vor ihm nieder und setzte Emerelle ab. Beide Kinder lächelten ihn an, waren seinem Zauber ganz und gar verfallen. Sie ahnten nicht, was für ein Raubtier dort vor ihnen kauerte. Ahnten nicht, wie die wirkliche Gestalt dieser Kreatur aussah.
»Wovon sprecht Ihr?«, fragte sie noch einmal, eindringlicher nun.
»Ihr müsst zurück nach Nangog, meine Dame.«
Das hatte sie befürchtet. »Soll ich zur Riesin?« Nie würde sie vergessen, wie sie auf dem Auge der gewaltigen Kreatur gestanden hatte. Winzig wie ein Staubkorn hatte sie sich gefühlt.
»Nicht zur Riesin selbst sollt Ihr gehen. Doch müsst Ihr etwas finden, das sie erschaffen hat. Und wie es scheint, wird es nun von ihrem Sohn bewacht. Er ist riesig. Pfeil und Bogen werden ihm nichts anhaben. Es gibt wahrscheinlich nur weniges, das ihn töten kann … Was er für seine Mutter hütet, nennen die Menschenkinder das Traumeis. Es sind Kristalle, die es, richtig angewandt, erlauben, den eigenen Körper nach seinen Wünschen zu verändern. Ein verlorener Arm könnte nachwachsen, und noch viel mehr wäre möglich …«
Nandalee spürte seine Leidenschaft. Was er ihr vortrug, war ihm wichtig, doch beschlich sie das Gefühl, dass es ihm noch mehr bedeutete, dass sie ihm endlich wieder zuhörte.
All die Monde hatte sie es vermieden, sich der Magie, die von ihm ausging, auszusetzen. Er hatte nichts unternommen, um Gonvalon zu retten. Und das durfte sie ihm niemals verzeihen! Durfte nicht … Sie sah in seine Augen. Sie waren voller Gefühl, nicht die Augen eines Ungeheuers.