Gegen den Wind
Artax genoss den Flugwind. Inzwischen war ihm ein Ritt auf seinem silbernen Löwen ein Vergnügen. Ein Ausflug von seinen erdrückenden Pflichten und eine Flucht vor all den Fragen, auf die es keine klaren Antworten gab. Mit jedem Tag wurde ihm das Amt des Unsterblichen mehr zur Last. Er schaffte es nicht, all die Entscheidungen zu treffen, die anstanden. Und ebenso wenig vermochte er es, den Problemen seines Reiches einfach den Rücken zu kehren, wie Subai es tat. Ihn interessierte es nicht, ob eine Überschwemmung an den Ufern des Seidenflusses Tausende Leben kostete und ob Dammbauten künftigem Unglück vorbeugen würden. Er ritt zur Jagd aus, wenn ihm danach war, blieb tagelang in seinem Harem oder zog von Festmahl zu Festmahl.
Artax konnte das nicht. Selbst wenn er sich nun eine kleine Flucht hin auf den seltsamen Wolkensammler erlaubte, hatte er lange darüber gebrütet, wie er sie vor sich rechtfertigen konnte. Er musste einfach wissen, wie es war, auf diesem neuen Wolkensammler zu reisen. Und er musste gemeinsam mit Volodi das Traumeis zurückholen! Damit würden sie die Welt verändern. Eine ganze Flotte dieser neuen Wolkensammler würde ihnen die Herrschaft über den Himmel Nangogs sichern – das wäre ein großer Schritt hin zum endgültigen Sieg über die Daimonen.
Außerdem hatte er bereits zwei Truhen mit Tontafeln an Bord des Wolkenschiffes bringen lassen. Die Sorgen seines Reiches würden ihn also bis in den Himmel Nangogs verfolgen.
Er ließ den Löwen spüren, dass er sich um seine eigene Achse drehen sollte. Ein völlig unnötiges Flugmanöver in dieser Situation, aber eines, das ein wunderbares Kribbeln im Bauch aufsteigen ließ. Er hörte Ashot auf seinem Löwen hinter sich fluchen. Sein Freund aus Jugendtagen hatte sich bislang nicht wirklich für das Fliegen begeistern können. Er meisterte es gut, doch er tat es nicht mit Leidenschaft. Ganz anders Mataan, der hoch am Himmel vergessen konnte, welch hohen Preis er dafür gezahlt hatte, seinem Herrscher das Leben gerettet zu haben. Er genoss die Freiheit, das wilde Ungestüm.
Artax hatte nur eine kleine Gruppe Löwenreiter als Eskorte. Ein Dutzend Krieger und seine wichtigsten Berater. Nun steuerte er das Flugdeck von Wind vor regenschwerem Horizont an. Das Schiff, das der Wolkensammler trug, war in nur wenigen Tagen gezimmert worden. Es war ein Gerüst, eine Notlösung, damit sie schnell die Reise beginnen konnten. Kein Vergleich zu den aufwendigen Palastschiffen der Unsterblichen.
Das unterste Deck war das Flugdeck. Der Landeplatz für ihre geflügelten Löwen und die fliegenden Bären der Drusnier. Sechzig Schritt in der Länge und knapp zwanzig Schritt in der Breite maß es. Es war fünf Schritt hoch. Sein Boden aus drei Zoll dicken Eichenbohlen gefertigt.
Als es noch auf Volodis Palasthof gelegen hatte, war es Artax riesig vorgekommen. Doch nun, da sein Löwe darauf zuflog, erschien es ihm lächerlich niedrig. Wie ein schmaler Spalt sah es von ferne aus. Das Hochgefühl des Fliegens wich Beklommenheit. Artax senkte seine lange Reiterlanze und malte sich aus, wie der Löwe zu hoch anflog und ihm der Kopf von der Kante des Oberdecks abgerissen wurde, während sein Reittier unbeschadet landete.
Nur noch fünfzig Schritt. Das verdammte Wolkenschiff lag vertäut an einem der Ankertürme von Volodis Palast. Artax fragte sich, warum er nicht wie jeder Mann mit Verstand über die Treppe des Turms hinaufgestiegen war.
Noch dreißig Schritt. Der Löwe streckte seine Schwingen und ging in den Sinkflug über. Etliche Schaulustige standen an der Reling des Oberdecks und sahen den anfliegenden Reitern zu.
Noch zehn Schritt. Artax zog unwillkürlich den Kopf ein.
Noch drei Schritt. Der Unsterbliche kniff die Augen zusammen.
Es gab einen Ruck. Metallene Löwenpranken trommelten über Eichenholz.
Artax atmete erleichtert aus.
Der Löwe lief dem Ende des Decks entgegen. Hier unten auf dem Flugdeck gab es nur rechts und links eine Reling. Beide Enden waren offen, damit die Bären und Löwen ungehindert landen und wieder davonfliegen konnten.
Artax hörte hinter sich weitere Pranken auf Holz treffen. Sein Löwe ging inzwischen nur noch im Schritt. Dann scherte er nach links aus und stellte sich neben einen der massigen silbernen Bären, auf denen die Männer Volodis flogen.
Der Unsterbliche schwang sich aus dem Sattel. Seine Knie zitterten ihm ein wenig, und er stützte sich an der Flanke des Löwen auf. Die Hand, in der er die Lanze hielt, war jedoch ruhig. Er schob die Waffe in eine Silberhülse am Hals des Löwen.
Du bist ein Narr, schalt ihn die Stimme seines Vorgängers in Gedanken. Mach so weiter, und bald wirst du, so wie ich, nur noch eine Stimme in den Gedanken des nächsten Narren sein, den der Löwenhäuptige zum Unsterblichen von Aram erhebt.
Dieses eine Mal musste Artax ihm stumm zubilligen, dass er recht hatte.
Mataans Löwe kam neben dem von Artax zum Stehen. Der Satrap stieg schwerfällig ab und zog seinen Krückstock aus einer Lederschlaufe am Sattel. »Das war mal ein Spaß«, erklärte er breit grinsend.
Artax hatte ihn schon lange nicht mehr so gut gelaunt gesehen.
Weitere Löwen landeten hinter ihnen, in schnellerer Folge nun. Ashot stieg leichenblass von seinem Reittier. Der Feldherr zitterte am ganzen Leib. »So werden wir keine Daimonen besiegen. Diese verfluchten Biester werden uns alle umbringen.« Er schlug seinem Löwen mit der flachen Hand auf die Mähne, dass es nur so schepperte. »Das Mistvieh hätte mich fast enthauptet, als wir gelandet sind.« Er zeigte mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand von knapp einem Zoll. »So viel hat gefehlt! Ich schwöre es euch. Nur so viel. Diese Bestie wollte mich umbringen.«
»Du hättest doch den Kopf einziehen können.« Ormu, der rotbärtige Jäger aus Garagum trat zu ihnen. »Ich bin hinter dir geflogen. Du hast so steif im Sattel gesessen, als hättest du einen Stock verschluckt.«
»Du meinst, ich hätte diesem Haufen aus Eisenschuppen meine Angst zeigen sollen? Mich wegducken? Im Leben nicht!« Ashot bedachte seinen Löwen mit einem finsteren Blick. »Glaub mir, nicht ich werde es sein, der hier am Ende klein beigibt!«
Artax musste schmunzeln. Ashot redete mit dem Löwen wie mit einem störrischen Esel. Schon in ihrer gemeinsamen Kindheit hatte sich sein Freund mit einem Esel angelegt, ihn beschimpft und zuletzt mit einer Rute geschlagen. Dafür hatte sich Ashot einen Tritt eingefangen, der ihn zur Stalltür hinausfliegen ließ. Eine Ewigkeit war seitdem vergangen. Mehr als zwanzig Jahre, und doch schien dieser Nachmittag nur einen Augenblick zurückzuliegen. Ashot war nun ein Feldherr. Aber er hatte sich nicht verändert.
Der letzte der Löwen war inzwischen gelandet. In langer Reihe standen sie an der Seite des Flugdecks. Jetzt erschienen sie wie metallene Statuen. Unbeweglich. Tot. Sie waren unheimlich. Aber das waren ihre Gegner, die Daimonen, auch. Sie brauchten solche Schreckenskreaturen, wenn sie siegen wollten.
Artax wandte sich zu einer der Leitern, die hinauf zum Oberdeck führten. Entschlossen, dem Flugdeck so rasch es ging zu entkommen, stieg er die Sprossen hoch. Das Holz war klebrig von Harz. Es war noch ganz hell, erst im Sommer geschlagen.
Auf dem Oberdeck herrschte reges Treiben. Wolkenschiffer spannten Netze über Vorratsamphoren, die an Bord getragen wurden. Überall standen Zelte, die der Mannschaft bei Nacht Zuflucht bieten sollten. Die Zeit hatte nicht gereicht, richtige Quartiere zu zimmern. Überall wurde improvisiert. Volodi hatte möglichst schnell aufbrechen wollen. Warum er so in Eile war, hatte er Artax nicht verraten wollen. Er wirkte getrieben. Ganz so, als würde er vor etwas davonlaufen.
Der Unsterbliche entdeckte seinen Freund zwischen zwei großen Speerschleudern an der Reling stehend. Volodi war allein, den Kopf gesenkt. Seine Leibwachen hielten einige Schritt Abstand zu ihm. Artax ließen sie passieren, sein Gefolge nicht.
»Was ist los?« Artax hatte Volodi selten in einer solchen Stimmung erlebt. Eigentlich war er immer unbeschwert, ja, fast schon leichtfertig.