Sie nahm den schweren Umhang aus Bärenfell und legte ihn sich um die Schultern. Das Fell stank. Es war hart und schlecht gepflegt. Kein Adliger oder Priester in Zapote hätte so etwas getragen. Zudem war der Umhang zu lang. Er schleifte hinter ihr über den Boden. Die Schultern waren so breit, dass ihr Kopf winzig wirken musste. Diese Kleider machten sie zur grotesken Witzfigur. Niemand würde sie nach diesem Abend mehr fürchten.
Sie beugte sich über die Wiege und küsste Wanya auf die Stirn. »Bitte vergib mir«, flüsterte sie. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie straffte sich. Mit durchgedrücktem Rücken und hocherhobenem Haupt machte sie sich auf den Weg zum Festsaal.
Sie wurde pflichtschuldig mit Hochrufen begrüßt. Aber sie sah, wie die Männer bald die Köpfe zusammensteckten und lachten. Noch unerträglicher war jedoch die zufriedene Miene, die Yuri aufgesetzt hatte. Diese Nacht war sein großer Triumph.
Es sollte sein letzter sein, entschied Quetzalli. Wenn sie ihn nicht aus dem Weg schaffte, dann würde er weitere Demütigungen für sie ersinnen.
Machtlos
Sie hatte lange im Schatten der Eichen des Geisterhains gewartet. Hin und wieder traten grölende Krieger aus dem Langhaus, suchten den Weg zu ihren Quartieren oder erleichterten sich ungehemmt mitten auf dem Hof. In die Nähe des Geisterhains wagte sich keiner von ihnen. Die Bäume waren ihnen heilig. Selbst im Vollrausch vergaßen sie das nicht.
Die Nacht war mehr als halb verstrichen, bis der eine aus dem Langhaus trat, auf den Quetzalli gewartet hatte. Ihr einziger Vertrauter. Hauptmann Oleg. Er hatte sichtlich Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Auf der breiten Treppe hinab zum Hof strauchelte er beinahe.
Mehr als zwei Stunden hatte Quetzalli unter den Bäumen gestanden und auf das Wispern des Windes in den Blättern gelauscht. Die Drusnier glaubten, dass Auserwählte die Stimmen der Ahnen in den Heiligen Hainen hörten. Sie war gewiss keine Auserkorene. Sie hatte keinen Rat im Raunen des Windes vernommen. Doch sie wusste auch so, was richtig war. Was getan werden musste. Gut, dass es Oleg gab!
Viel lieber hätte sie sich an ihren Bruder Necahual gewandt. Er war ein Jaguarmann. Einer ihrer Anführer. Er könnte Yuri einfach zerfetzen. Doch jeder Weg zu den Zapote war ihr versperrt. An dem Tag, an dem sie über dem Altarstein stehend gezögert hatte, Volodi das Herz herauszuschneiden, hatte sie für immer mit ihrem Volk gebrochen. Sie hatte ihren Gott verraten. Die Priesterfürsten und der Unsterbliche Acoatl würden ihr das niemals verzeihen. Sie hatte ihr Volk verloren, und sie wusste, sie würde die Drusnier nie für sich gewinnen. Ihre Liebe zu Volodi hatte sie heimatlos, ja, schlimmer noch, zur Ausgestoßenen gemacht. Aber sie würde darum kämpfen, respektiert zu werden. Und sei es, dass dieser Respekt aus Angst geboren war.
Oleg hatte fast die Mitte des Hofs erreicht, als sie die Deckung der Bäume verließ. Das lächerliche Bärenfell hatte sie gegen einen Umhang aus schwarzer Wolle getauscht, der sie zu einem Schatten in der Nacht werden ließ. Oleg zuckte sichtlich zusammen, als sie an seine Seite trat.
»Herrin?«, lallte er, als er sie erkannte.
»Ich schulde Euch Dank, Hauptmann.« Sie neigte das Haupt, auch wenn es ihr schwerfiel, sich vor diesem versoffenen Barbaren demütig zu zeigen.
»Häh?« war alles, was dem Krieger dazu einfiel.
»Ihr habt mir sehr geholfen, als Ihr Anisja beigestanden habt, den Palast zu verlassen.«
»Beigestanden habt …?« Er schnaubte ärgerlich. »Das trifft es nicht so ganz. Ich hab sie umgebracht, weil sie so dämlich war, sich in das Bett des Unsterblichen zu schleichen, ohne dich um Erlaubnis zu bitten, Herrin.« Er spuckte aus. »Das hätt ich vielleicht lassen sollen. Ich glaub, Volodi hat sie wirklich gemocht.« Er blinzelte. »Sie hatte etwas an sich …«
»Nein, Ihr habt das Richtige getan, Hauptmann!«, unterbrach Quetzalli die weinseligen Grübeleien des Kriegers. »Und ich möchte Euch um einen weiteren Gefallen bitten.«
»Yuri?«
Auch wenn er betrunken war, war sein Hirn offensichtlich noch nicht ganz vernebelt. Das warf die Frage auf, ob er sie absichtlich nicht ansprach, wie es einer Herrscherin gebührte, oder ob er tatsächlich so betrunken war, dass er die Feinheiten der Anrede nicht mehr zusammenbrachte.
Oleg lachte auf. Es war ein verzweifelter, freudloser Laut. »Er ist es! Du hast mich hier erwartet, um mich wieder um einen Mord zu bitten.«
»Es wird nicht Euer Schaden sein, Hauptmann. Wovon träumt Ihr? Land? Vielleicht ein Fürstentitel?«
Er machte eine abwehrende Geste. »Du kannst mir keinen Fürstenthron verschaffen …«
»Ich kann Volodi davon überzeugen, dass Eure treuen Dienste eine besondere Belohnung verdienen.«
Er schüttelte übertrieben den Kopf. »Schweig!«
Er hatte das so laut ausgerufen, dass Quetzalli sich besorgt umsah, ob sie die Neugier anderer geweckt hatten. Doch der Palasthof schien verwaist zu sein.
»Folgt mir in die Schatten!« Sie griff ihn energisch am Arm und zog ihn mit sich in den Schutz der Eichen. Sie war sich bewusst, wie das für etwaige heimliche Beobachter aussehen musste. Aber sollten sie nur tratschen. Volodi würde niemals an ihrer Treue zweifeln. Aus dieser Richtung drohte keine Gefahr.
»Ihr müsst es tun, Hauptmann«, beharrte sie. »Lasst Yuri verschwinden. Ganz gleich, wie Ihr es anstellt. Ich würde es begrüßen, wenn er in die Schweinestallungen fällt. Dieses Schwein gehört zu seinesgleichen. Solch ein Ende wäre für ihn angemessen.«
»Dieses Schwein hat mir zwei Mal geholfen. Einmal war ich so schwer verletzt, dass ich ohne seine heilenden Hände vielleicht gestorben wäre. Ich kann ihn nicht töten!«
Quetzalli verfluchte sich stumm dafür, dass sie nicht darauf geachtet hatte, ob Oleg sich gemeldet hatte, als sie danach gefragt hatte, wer in der Schuld des Heilers stand.
»Denk nicht mal darüber nach, Herrin. Bitte, ich beschwöre dich. Zu viele Männer sind ihm verpflichtet. Versuch keinen anderen zu finden …«
»Yuri hat mich heute lächerlich gemacht. Mich, die Frau des Unsterblichen Volodi, Eure Herrscherin! In meinem Volk ist das ein todeswürdiges Verbrechen. Niemand würde es auch nur wagen …«
»Wir sind Drusnier, keine Zapote, Herrin. Versuch das endlich zu verstehen, und du hältst den Schlüssel zu unseren Herzen in Händen. Nimm uns als das, was wir sind. Die meisten Männer fanden deinen Sinneswandel gut …«
»Sie haben über mich gelacht! Ich habe es doch gesehen. In diesen Kleidern habe ich mich lächerlich gemacht!«
»Ja, sie waren nicht sehr vorteilhaft …«, lenkte Oleg ein. »Aber du hast etwas anderes gezeigt. Du bist uns einen Schritt entgegengekommen. Du hast zum ersten Mal versucht, eine von uns zu sein. Darüber hat niemand gelacht. Es war eine große Geste.«
»Ich sehe schon, ich kann auf Eure Dienste nicht hoffen …«
»Herrin!« Oleg griff sie bei beiden Armen. »Begeh keine Dummheit. Deine Blicke heute Abend haben lauter als Worte gesprochen. Jeder hat begriffen, dass du Yuri nicht wohlgesinnt bist. Wenn dem Heiler etwas zustößt oder er verschwindet, dann wird jeder als Erstes an die rachsüchtige Zapotehexe denken, die sich ins Bett des Unsterblichen gezaubert hat.«
»Ihr denkt, ich habe einen Liebeszauber nötig, um Volodi …?«
Oleg senkte den Blick. »Es wird viel über dich geredet. Du solltest kein Öl ins Feuer gießen. Yuri hat an diesem Hof ohne Zweifel mehr Freunde als du.«
»Meine Mutter hätte am Hof des Unsterblichen Acoatl mit einem Wimpernschlag das Schicksal eines Bastards wie Yuri besiegelt …«
»Aber dies ist der Hof des Unsterblichen Volodi. Hier wird niemand blind einem Mordbefehl von dir folgen.« Er stockte, wurde sich offensichtlich bewusst, dass es zumindest auf ihn nicht zutraf. Dann schüttelte er wieder den Kopf. »Jedenfalls nicht, wenn es um Yuri geht. Lass ihn, Herrin, ich rate dir das als Freund. Jedes Unglück, das du für den Heiler ersinnst, wird mit doppelter Macht auf dich zurückfallen.« Er ließ ihre Arme los. »Ich wünsche dir eine friedliche Nacht, Herrin.«