Quetzalli unternahm keinen Versuch, Oleg zurückzuhalten, als er den Eichenhain verließ. Niedergeschlagen kehrte sie zu ihren Gemächern zurück. Die beiden Wachen an der Tür grüßten sie, doch glomm da ein Funke Verachtung in ihren Augen? Hatten sie vielleicht eben noch darüber geflüstert, wie sie in einem Bärenfell ausgesehen hatte? Glaubten auch sie, sie habe sich Volodi mit einem Liebeszauber gefügig gemacht?
Die Herrscherin schloss die schwere Eichentüre hinter sich. Sie trat an die Wiege und sah in das friedlich schlafende Gesicht ihres Sohnes. Wie viel hatte sie in dieser Nacht verloren? Sie würde hier in ihren vier Wänden bleiben, bis Volodi zurückkehrte. Beim Gedanken an ihn wurde Quetzalli die Kehle eng. Wohin hatte er sich aufgemacht? Sie wünschte sich, sie hätte nicht mit ihm gestritten. Diese kleine Schlampe war es nicht wert gewesen. Wieder dachte sie an die Hahnenleber, die voller Würmer gewesen war. Dunkle Vorahnungen überwältigten sie. Sie kniete nieder, rief sich die Steinbilder der Gefiederten Schlange in den Tempeln ihrer Heimat vor Augen und begann mit einer Inbrunst zu beten, wie sie es seit Kindertagen nicht mehr getan hatte.
Ausgebrannt
»Leer.« Arcumenna fasste mit dem einen Wort zusammen, was sie alle sahen und wovon die Späher schon berichtet hatten. Ihre kleine Gruppe stand auf dem obersten Absatz der weiten Treppe, die sich um einen Felspfeiler herum zum Hafen hinabwand. Das Bild der Verwüstung, das sich ihnen darbot, erfüllte Shaya mit stummer Trauer.
Zwei Tage waren seit dem Hafenbrand vergangen. Shaya gehörte ebenso wie Hattu und Horatius zu den fünf Auserwählten, die den Feldherrn begleiten durften. Was sie hier sahen, musste ein Geheimnis bleiben.
Als Arcumenna die Stufen hinabzusteigen begann, folgten alle schweigend. Wieder einmal mussten sie über die zusammengekrümmten Leiber von Daimonen hinwegsteigen. Die Toten hatten keine Wunden. Sie sahen aus wie von Geistern gemeuchelt. Ihre bartgesäumten Mäuler aufgerissen, mit angstweiten Augen. Sie waren erstickt, als sie versucht hatten, vor dem Feuer zu fliehen. Weniger als zwanzig von ihnen hatten überlebt. Sie hatten Arcumennas Kriegern in den Tunneln einen verzweifelten, letzten Kampf geliefert.
Shaya stützte sich an der mit Rußschlieren bedeckten Felswand ab. Sie ging steif. Ihr Rücken schmerzte bei jeder Bewegung, und sie war todmüde. In den letzten Tagen hatte sie selten mehr als drei Stunden geschlafen.
»Sie haben alles nach unten gebracht«, stellte Horatius fest. »Genau wie ich es gesagt habe.«
»Wir gehen dennoch weiter«, beharrte Arcumenna. »Vielleicht haben irgendwelche Vorräte das Feuer überstanden.«
Der Hauptmann sah Arcumenna mit seinem verbliebenen Auge finster an. »Das wäre ein Wunder, Herr.«
»Und Wunder geschehen!« Der Feldherr war aschfahl. Auch er war völlig übermüdet.
»Wir sollten besser den Tatsachen ins Auge sehen.«
Shaya wunderte sich über den Mut des Einäugigen. Oder war es Verzweiflung? So wie es aussah, gab es noch für höchstens fünf Tage Lebensmittel auf dem Felsen. Die Vorräte in der Stadt waren zum größten Teil im Drachenfeuer verbrannt. Und die Vorratslager oberhalb des Hafens waren von den Daimonen ausgeplündert worden. Wie es schien, hatten sie alles, was sich tragen ließ, zum Hafen hinabgeschafft, wo ohnehin schon die größten Vorratslager gewesen waren.
»Die toten Drachen – war das kein Wunder? Irgendetwas ist hier auf dem Felsen, das seine schützende Hand über uns hält«, sagte Arcumenna, ohne stehen zu bleiben.
Horatius wollte etwas sagen, doch ein Blick des Feldherrn genügte, um den Krieger stumm zu machen. Je tiefer sie kamen, desto ernüchternder war der Anblick, der sich ihnen in der Hafenhöhle bot. Immer noch hing kalter Rauch in der Luft. Er brannte in den Augen und beizte bei jedem Atemzug die Kehle.
Shaya hob einen Zipfel ihres Umhangs vor den Mund, um durch den Stoff zu atmen.
»Ihr solltet euch zurückziehen, meine Dame«, murmelte Arcumenna, der kurz stehen geblieben war und über den verwüsteten Hafen blickte. »Dies ist kein Anblick für …«
»Für jemanden, der Arme und Beine Schwerverletzter abtrennt? Für jemanden, der auf dem Rückzug aus der Eiswüste dabei war?«
Arcumenna sah zu ihr auf. »Entschuldigt. Ich vergaß. Ich …« Er stieß einen langen Seufzer aus. »Sieht jemand ein Schiff, das von den Flammen verschont geblieben ist?«
Alle Schiffe, die Shaya entdecken konnte, waren bis zur Kiellinie abgebrannt und gesunken. Es war hoffnungslos. Sie hatten so gut wie nichts mehr zu essen, und es gab keine Möglichkeit, von der Felseninsel zu fliehen. Das Meer um den steilen Felsen war von Haien verseucht. Sie hatten die Daimonen vernichtet und sich selbst auch.
Arcumenna schien sich bewusst zu sein, was sie dachte. Er wandte sich ab und stieg weiter zum Hafen hinab. »Das ist nicht das Ende!«, sagte er laut. »Wir werden einen Weg finden! Es gibt immer einen Weg! Es sind die Verzagten, die untergehen.«
Hattu hielt Shaya bei der Schulter zurück. »Lass ihn ziehen«, sagte er niedergeschlagen. »Es heißt, er habe nie eine Schlacht verloren. Er kann das nicht akzeptieren. Noch nicht … Es bringt doch nichts, in der Asche zu stochern.«
»Du willst also lieber warten und verhungern?«
Der Erste Heiler schüttelte müde den Kopf. »Was leben will, das strebt zum Licht. Wir sollten hinauf zu den Ruinen. In eingestürzten Häusern nach Vorratskellern suchen. Möwen erlegen … Auf Hilfe warten. Die brennende Stadt muss weithin sichtbar gewesen sein. Jemand wird kommen …«
»Die Drachen, die über der Stadt schwebten, waren sicherlich auch weithin sichtbar. Wer sollte kommen, um sie sich aus der Nähe anzusehen?«
»Die mit aufrechtem Herzen.« Er zwinkerte ihr zu. »Und die, die gute Augen haben. Die Drachen sind seit Tagen verschwunden. Es wird Hilfe kommen. Lass uns wieder nach oben gehen. Es gibt noch viele Verwundete, die auf uns warten.«
»Nein.« Sie wollte sich ihm gegenüber nicht erklären, wandte sich einfach ab. Ihr lag es nicht, ihr Schicksal anderen zu überlassen. Sie würde zusammen mit Arcumenna nach einem Fluchtweg suchen.
»Läufst du vor ihnen davon?« Hattu sagte das ganz ruhig, ohne Zorn oder Häme. »Du wirst oben gebraucht.«
Er hatte recht, dachte Shaya, ohne ihre Schritte die Treppe hinab zu verlangsamen. Sie wurde oben gebraucht. Und sie hatte in den letzten Tagen bis zur völligen Erschöpfung gearbeitet. War sie doch mehr Kriegerin als Heilerin?
Sie konnte kein Glied mehr amputieren. Keinem Mann, der Wundbrand bekommen hatte, mehr in die Augen sehen und sagen, dass er nur noch die Wahl hatte, als Krüppel zu leben oder zu sterben. Hier unten würde sie vielleicht einen Fluchtweg für alle finden. Oder aber nichts … Sie ging weiter.
Gaius, ein junger Hauptmann, der nicht sonderlich kriegerisch aussah, und Horatius waren Arcumenna gefolgt. Hattu und der kleine, dicke Kerl, der die Kaufleute der Stadt vertrat, zogen sich zurück. Shaya hatte sich nicht einmal seinen Namen gemerkt, nur den schwammigen Händedruck und die Arglist in seinen Augen, die er mit geübtem Lächeln überspielte. Er war sicher ein erfolgreicher Kaufmann.
Am Fuß der Treppe lagen verkohlte Daimonen. Die Hitze hatte ihre Körper zusammenschrumpfen lassen. Ihre Überreste waren kaum größer als Säuglinge. Die Leichen wie Holzkohle.
Arcumenna, Horatius und Gaius standen bei einem großen Becken, das im hinteren Bereich des Hafens lag. Tausende tote Fische schwammen mit den bleichen Bäuchen nach oben darin.
Gaius hatte eine tote Makrele aus dem Wasser gezogen. Er zerdrückte sie in der Hand. »Gekocht«, stellte er fest. »Das Becken ist nicht sonderlich tief. Die Fischer haben einen Teil ihres Fangs lebend hierhergebracht. So blieben sie länger frisch …«
»Das mit dem frisch hat sich wohl erledigt«, bemerkte Horatius lapidar.
»Kann man sie noch essen?«, fragte Shaya.
»Wenn man mutig ist.« Arcumenna lächelte gegen seine Verzweiflung an. »Ich glaube, ich werde lieber fasten.«