Sie ließen das Fischbecken hinter sich und stiegen durch die Trümmer eines ausgebrannten Lagerhauses, dessen Boden knöchelhoch mit den Scherben geplatzter Amphoren bedeckt war. Immer wieder fanden sie die verkohlten Leichen ihrer Feinde.
Shaya sah auf einen größeren Daimon herab. Selbst verbrannt war zu erkennen, dass es eine Frau gewesen sein mochte. An ihrer Seite lag ein ausgeglühtes Schwert. Die Klinge hatte sich blaurot verfärbt. Die Leiche wirkte, als wäre sie im Schlaf ein Raub der Flammen geworden. Hatte der Rauch sie ohnmächtig werden lassen?
Shaya sah auf und ließ den Blick durch die verwüstete Hafengrotte schweifen. War dies alles eine Warnung? Ein Omen? Würde so der Streit um Nangog enden? Würden sie alle – Menschen und Daimonen – verlieren, bis nur noch die Kinder der Riesin übrig blieben?
Die Heilerin erreichte das Ende einer Mole und blickte hinab aufs Wasser. Dort lag eines jener wunderlichen metallenen Schiffe, mit denen die Daimonen gekommen waren. Es sah aus wie ein Fass, das zu mehr als drei Vierteln im Wasser versunken war. Sie entdeckte ein zweites, ein drittes Daimonenschiff. Vielleicht …
Sie betrachtete die gesunkenen Rümpfe der Holzschiffe. »Flöße«, sagte sie leise. Es gab einen Weg, dem Felsen zu entkommen! Das war die Lösung. Sie würden Planken von den halb verkohlten Schiffsrümpfen reißen und mit Seilen auf den Daimonenschiffen festzurren.
Sie winkte den drei Kriegern. »Kommt her und seht!«, rief sie aufgeregt. »Die Daimonen werden uns letztlich zur Flucht verhelfen.«
Arcumenna war als Erster bei ihr. Sie erläuterte ihm den Plan. Er seufzte. Und dann war da wieder dieses Strahlen in seinen Augen, das seit Tagen verschwunden gewesen war. »Du bist eine Frau mit vielen Talenten, Shaya. Gaius!« Er wandte sich an den schlaksigen, jungen Hauptmann. »Ich will jeden Mann, der noch in der Lage ist zuzupacken, in drei Stunden hier unten haben. Wir werden Flöße bauen und zum Festland übersetzen!«
Der Funke der Begeisterung sprang nicht über.
»Was?«, fuhr Arcumenna ihn an, als Gaius behäbig den Kopf schüttelte.
»Unsere Späher, Herr. Sie haben beobachtet, wie etwa dreißig dieser seltsamen Schiffe entkommen sind, als das Feuer über die Daimonen kam.« Er blickte in Richtung des weiten Höhlenausgangs. »Sie sind irgendwo da draußen. Und wahrscheinlich warten sie nur darauf, an uns Rache zu nehmen.«
Glück gehabt
Er hatte Glück gehabt, wieder einmal, dachte Hornbori und betrachtete die kleine Inselgruppe am Horizont. Asugar hatten sie weit im Westen hinter sich gelassen. Selbst die himmelhohe Rauchsäule, die über der Klippe gestanden hatte, war inzwischen außer Sicht. Vielleicht hatte der Wind sie fortgetragen.
»Der Elf, der sich diesen Mist hat einfallen lassen, hat nur Scheiße im Hirn«, fluchte Ulur, der ein Stück weiter vorn breitbeinig auf dem Rumpf der Wilden Sau stand. »Das Ding wird uns nicht nur Fahrt nehmen, wir werden damit hängen bleiben, wenn wir durch Tunnel tauchen. Und überhaupt, es verschandelt meine wunderschöne Sau.«
»Außerdem wird das Salzwasser binnen kürzester Zeit die Mechanik ruinieren«, stieß Nyr ins selbe Horn. »Speerschleudern auf Aalrümpfe zu montieren ist wirklich eine Furzidee!«
Hornbori war das Gerede leid. Seit Stunden ging es so! Und wahrscheinlich war es bei keinem der dreißig Aale anders. Die kleine Flotte war aufgetaucht und hielt mit langsamer Fahrt auf die Inselgruppe vor ihnen zu. Überall hallten Hammerschläge auf Kupferrümpfen, Flüche waren zu hören und der eintönige Singsang der Lotsen. Die Speerschleudern hatten von Anfang an zu ihrer Ausrüstung gehört, und bis Hornbori heute Morgen den Befehl gegeben hatte, sie vor den Ausstiegsluken der Aale zu befestigen, hatten sich alle gefragt, wozu die Waffen dienen sollten. Für den Kampf in den Höhlen von Asugar taugten sie nicht.
Ärgerlich tastete Hornbori nach dem Schreiben, das er unter sein Wams geschoben hatte. Hatten die Himmelsschlangen ihn so demütigen müssen? Vor aller Augen. Was erwartete ihn, wenn er von dieser Mission zurückkehrte? Und was erwartete ihn hier?
Misstrauisch ließ er den Blick über die Wellen schweifen. Sie befanden sich im Delta des Sepano. Das gelbbraune Wasser des gewaltigen Stroms vermengte sich mit den Fluten des Purpurnen Meers. Schmutzschlieren trieben wie Nebel im Wasser. Die See war flach und tückisch. Am Bug jeden Aals stand ein Lotse mit Senkblei. Selten war das Wasser tiefer als sieben Schritt. Überall lauerten tückische Sandbänke in den trüben Fluten. Es gab erstaunlich viele Fische hier. Manche waren erschreckend groß.
Ihr Bestimmungsort war im Befehl der Himmelsschlangen recht deutlich beschrieben. Eben hatten sie die Insel mit dem verfallenen Leuchtturm aus weißem Korallenstein passiert. Es war das einzige Bauwerk von Menschenhand, das sie im Delta bisher gesehen hatten.
Hornbori spürte, wie sich Schweiß unter seinen Achseln sammelte. Warum konnten diese verfluchten Drachen den Ort hier so exakt beschreiben, aber nicht das Meeresungeheuer, das hier lauerte? Sie sollten die Bestie töten und irgendwelche Amphoren bergen, die auf ihrem Rücken festgebunden waren.
Ein Schwarm großer weißer Vögel erhob sich von einer Sandbank an Steuerbord. Es waren Hunderte. Jeder von ihnen groß wie eine fette Gans.
»Wir sollten mal was Anständiges essen«, murmelte Ulur, der wieder neben ihm stand, und sprach damit aus, was Hornbori dachte.
Es wäre gut für die Moral der Männer, wenn die ganze Flotte einen dieser Strände anlaufen würde, um Jagd auf die fetten Vögel zu machen und sie über offenen Feuern zu braten. Und wenn sie dann noch ein paar Fässer Pilz hätten … Im Schatten eines der seltsamen astlosen Bäume mit der Krone aus riesigen Blättern zu liegen und zu dösen … Vielleicht mit Amalaswintha im Arm …
Eine Steilklippe erschien im Dunst am Horizont und schreckte Hornbori aus seinen Tagträumen. Ein Fels, so groß wie der von Asugar. Von dieser Landmarke war im Befehl der Drachen keine Rede. Seltsam, es war ein guter Orientierungspunkt. Hatten sie etwa ihr Ziel verfehlt? Unruhig blickte Hornbori zurück. Die Insel mit der Ruine lag weniger als eine Meile hinter ihnen. Sie sollten von dort aus einen östlichen Kurs halten. Nach etwa zwei Meilen sollten sie nach dem Seeungeheuer Ausschau halten. Das musste dort bei der Steilklippe sein. Lauerte die Bestie dort? Vielleicht in einer Höhle, ähnlich der Hafengrotte von Asugar? Oder hatte sie sich im Schlick eingegraben wie diese seltsamen, platten Fische, von denen sie gestern einige gefangen hatten.
»Sollen wir Kurs auf die Klippe nehmen?«, fragte Ulur. Der dicke Kapitän der Wilden Sau trug nur noch ein Tuch um die Lenden geschlungen und schwitzte dennoch so sehr, dass ihm der Schweiß in Strömen über den Körper lief.
»Ja, nehmen wir Kurs auf den Fels«, murmelte Hornbori. Er konnte seinen Blick nicht von den Tätowierungen auf Ulurs Körper abwenden. Vor allem ein Tier dicht über dem Bauchnabel faszinierte ihn. Es sah aus wie ein Fass mit Flossen, aus dem ein langer, schlangenhafter Hals herausragte, der einen erstaunlich kleinen Kopf trug.
Ulur kratzte sich ungeniert im Schritt. »Das ist kein gutes Zeichen«, grummelte der Kapitän. »Kein gutes Zeichen.«
»Was?«, fragte Hornbori. Auch ihm wurde immer heißer, dabei hatte die Sonne noch nicht einmal den Zenit erreicht. Fahrig fuhr er sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn.
»Na, wenn es mich da juckt«, murrte Ulur. »Wenn kein Weib in der Nähe ist und es mich juckt und kribbelt, dann ist Ärger im Verzug.« Er sah sich misstrauisch um. »Und die Himmelsschlangen haben nichts darüber geschrieben, was für ein Ungeheuer hier lauert?«
»Nichts.« Hornbori wurde sich bewusst, dass alle Zwerge, die in der Hitze auf dem Rumpf des Aals herumlungerten, ihrem Gespräch lauschten. »Egal, was es ist, dreißig Aale mit Speerschleudern sind mehr als genug, um es blutend auf den Grund des Meeres zu schicken.«