»Wenn die Himmelsschlangen glauben, wir brauchen dreißig Speerschleudern, muss das Vieh aber ziemlich groß sein.«
Hornbori hätte Nyr für diesen Spruch am liebsten ersäuft. Er wollte seine Männer beruhigen und nicht weiter ängstigen!
»Also, ich hab mal gesehen, wie so ein Speer ein wütendes Mammut niedergestreckt hat«, mischte sich nun auch Ginnar ein. »Hat ganz schön Wums, so ein Speer. Hat den Schädel des Mammuts durchschlagen, als wär der weich wie Grütze.«
»Wie weit waren die Schützen denn entfernt?«, fragte Nyr interessiert.
Ginnar grinste breit, was das Narbengeflecht um sein Kinn und seinen Mund in ein grausiges Labyrinth aus Wülsten und Falten verwandelte. »Die Jungs hatten Blut wie Eiswasser. Waren meine Jungs … Sie haben erst geschossen, als der Bulle nur noch zehn Schritt entfernt war.«
Nyr stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»Dann gehen die Drachen also von einem Biest aus, das größer als dreißig Mammuts ist«, sagte Ulur und nahm einen Schluck aus seinem Wasserschlauch.
»So einfach kann man das nicht rechnen«, wandte Nyr ein. »So ein Speer kann auch ein viel größeres Tier als ein Mammut aufhalten, wenn man nur richtig trifft.«
Unbehagliche Stille breitete sich unter den Männern auf dem Rumpf aus.
»Wahrscheinlich fürchten die Drachen, dass euch vor Angst die Händchen zittern, wenn ihr das Ungeheuer seht. Deshalb schicken sie dreißig, damit vielleicht einer trifft.« Es war Galar, der sprach. Er lag auf seinem Umhang, dicht beim Bug des Aals, hinter dem Lotsen mit dem Senkblei. Bislang hatte der Schmied kein Wort gesagt. Er döste in der Sonne und schnitt, wie meist, ein mürrisches Gesicht. Dennoch hätte Hornbori ihn in diesem Augenblick umarmen mögen. Das war die richtige Art, ihren Auftrag zu sehen.
»Zeigen wir den Drachen, dass wir Männer und keine Memmen sind!«, forderte Hornbori entschlossen. »Wir lassen uns doch nicht von einem großen Fisch einschüchtern, oder?«
»Wir könnten das Vieh auch rammen«, meinte Ulur. »Das hier«, er zeigte mit seinen schwitzigen Fingern auf das Untier über seinem Bauchnabel, »das haben wir ausmanövriert und es mit voller Fahrt am Hals getroffen.« Er schnalzte lautstark mit der Zunge. »Sein Genick ist wie ein dürres Ästlein gebrochen. Dabei war das Biest dreimal so lang wie die Wilde Sau.«
»Zwei Faden abnehmend!«, rief der Lotse am Bug.
Ulur fluchte. »Zwei Strich steuerbord«, rief er durch das offene Luk ins Innere des Aals. Das Boot schwenkte ein wenig nach rechts.
»Zwei Faden!«, ertönte es wieder vom Bug.
»Verdammtes Delta«, zischte der Kapitän.
»Warum der Ärger? Das sind doch noch fast vier Schritt«, wandte Hornbori ein. Die Wilde Sau hatte einen Tiefgang von etwas mehr als zwei Schritt, und sie war das mit Abstand größte Schiff ihrer Flotte.
»Wir haben Flut, verdammter Tunnelwurm. Wenn die Ebbe kommt, sitzen wir auf Grund, wenn wir keine tiefere Fahrrinne finden.«
Hornbori war versucht, den Befehl zu geben, eine der flachen Inseln anzulaufen. Sollten sie alle ein wenig ausruhen. Aber wie würde er vor den Himmelsschlangen dastehen, wenn die großen Drachen davon erfuhren, wie wenig pflichteifrig er bei der Ausführung ihrer Befehle gewesen war? Er konnte sich eine solche Nachlässigkeit nicht leisten. Vielleicht wenn sie das Ungeheuer zur Strecke gebracht und die Amphoren geborgen hatten.
»Zweieinhalb Faden«, erklang es vom Bug. »Drei Faden!«
Ulur seufzte erleichtert.
Die kleine Flotte der Aale folgte ihrer Kursänderung. Sie waren das vorderste der Boote. Eine Tatsache, die Hornbori nicht gefiel. Sie würden die Ersten sein, die dem Ungeheuer begegneten. Aber hatten Nyr und Galar nicht zwei große Sonnendrachen vom Himmel geholt? Was galt es also zu fürchten? Sie waren viel besser bewaffnet, als die Himmelsschlangen es ahnten. Dennoch wollte das mulmige Gefühl nicht weichen. Und Ulur schien es nicht besser zu ergehen. Aus den Augenwinkeln sah Hornbori, wie sich der Kapitän wieder im Schritt kratzte.
Der Heermeister heftete den Blick auf den Horizont. Sie waren vorbereitet! Beide, Galar und Nyr, hatten ihre Armbrüste mit nach oben gebracht.
Ihre kleine Flotte beunruhigte eine Vogelschar auf einer Insel, etwa dreißig Schritt backbord. Ein lang gezogenes Eiland voll dichtem Gestrüpp und seltsamen, astlosen Bäumen. Laut mit den Flügeln schlagend, stieg der Schwarm auf und flog vor ihnen davon, der Steilklippe entgegen. Doch sie ließen sich nicht auf dem fernen Felsen nieder, sondern schlugen einen weiten Bogen und wichen ihm aus.
Nyr trat an seine Seite. »Können wir reden?«, raunte ihm der Schütze ins Ohr und deutete zum Heck des Aals.
Hornbori gefiel das nicht. Das Boot war zu klein. Auch am Heck würden sie flüstern müssen, wenn sie nicht von den anderen gehört werden wollten. Und das würde die Männer beunruhigen.
Nyr bedachte ihn mit einem drängenden Blick. Also gut, dachte sich Hornbori und folgte seinem Gefährten.
»Wie gut hast du dir den zerstörten Leuchtturm angesehen?«, flüsterte Nyr.
Der Heermeister zuckte mit den Schultern. »Gab es was Besonderes zu sehen?«
»Durchaus!«
Der drängende Ernst in Nyrs Stimme verstärkte das flaue Gefühl Hornboris noch.
»Der Turm ist nicht verlassen worden und verfallen. Er sah eher so aus, als hätte ihn etwas enthauptet.«
»Den Turm enthauptet?« Hornbori hatte versehentlich laut gesprochen, und mindestens Ulur hatte ihn gehört. Der Kapitän sah ihn stirnrunzelnd an. »Bist du dir darüber im Klaren, was für einen Unsinn du erzählst?«, fuhr Hornbori leiser fort.
»Es war dieses Biest, da bin ich mir sicher. Und um so etwas zu tun, muss es ziemlich groß sein. Größer als ein Sonnendrache, würde ich schätzen.«
»Damit hatten wir doch gerechnet …«
Nyr nickte in Richtung des Felsens. »Hast du die Vögel gesehen? Sie mochten nicht auf der Klippe landen. Unsere Beute liegt dort irgendwo auf der Lauer. Und wenn wir nicht verdammt vorsichtig sind, dann werden wir zu seiner Beute werden.«
Hornbori blickte zu der Felseninsel. Sie war noch zu weit entfernt, um deutlich zu erkennen zu sein. Irgendwie sah sie seltsam aus. Das Gestein wirkte wie erstarrte Kaskaden.
»Dort wächst kein Baum«, sagte Nyr. »Und die Vögel meiden die Insel. Wir sollten aufpassen.«
Jetzt hatte der Schütze endgültig erreicht, dass Hornbori ein Schauder über den Rücken lief. »Wir werden Angriffsformation einnehmen«, entschied er. »Ulur! Gib den anderen Aalen das Zeichen, sich zum Angriff bereitzumachen.«
Der Kapitän nickte ihm zu. »Fahrt drosseln!«, rief er durch das Luk, und die wenigen Mann, die noch unten an der Kurbelwelle saßen, legten sich noch weniger ins Zeug. Dann hob er die Arme hoch und winkte den übrigen Aalen zu. »Angriffsformation«, brüllte er in einem tiefen Bass, der wohl noch in einer halben Meile zu hören war.
Die übrigen Boote schlossen zu ihnen auf, bis sie einen weiten Halbkreis bildeten, in dessen Mitte die Wilde Sau lag.
»Jeder, der hier oben nichts verloren hat, unter Deck!«, befahl Ulur.
Hornbori gesellte sich zu dem schmerbäuchigen Kapitän.
»Angriffsgeschwindigkeit!«, rief dieser nun lang gedehnt, während neben ihm Krieger durch das offene Luk hasteten. Dann griff er sich wieder in den Schritt und murmelte: »Mir schmeckt das nicht.«
Hornbori ignorierte den Einwand. Jetzt waren sie hier. Sie würden die Schlacht schlagen, in die die Himmelsschlangen sie geschickt hatten. Und vor allem: Die Wilde Sau war nicht mehr das vorderste Boot in der Formation. In der Mitte des Halbmonds hatte sie den Platz, der am weitesten hinten lag.
Die benachbarten Boote nahmen an Fahrt auf.
»Fünf Faden!«, rief der Lotse vom Bug.
Hornbori grunzte zufrieden. Sie hatten freies Fahrwasser für die Schlacht. Das war gut!
»Macht die Geschütze klar!«
Dutzendfach erklang das metallische Klacken der Speerschleudern, die gespannt wurden.
»Sechs Faden!«, erklang es am Bug. »Achtung!«