Eine kniehohe Welle lief ihnen durch das seichte Gewässer entgegen. Der Rumpf der Wilden Sau hob und senkte sich.
»Bei den Eiern der Alben!«, keuchte Ulur.
Hornboris Herz setzte für einen Schlag aus. Die Insel! Sie hatte sich bewegt. Hoch oben in der Klippe blickte ein Auge auf sie herab. Ein Auge, groß wie ein Ententeich.
Wir sind tot!
»Wir sind tot!«
Galar fluchte. Er hatte den Spruch von Nyr nun wirklich schon oft genug gehört. Doch nie hatte der Richtschütze so recht damit gehabt wie dieses Mal.
Weitere Wellen rollten auf die Aale zu, als das Ungeheuer sich bewegte. Dieses Biest übertraf alles, was er sich bislang hatte vorstellen können. Das war kein Ungeheuer mehr, es war eine Fleisch gewordene Naturgewalt.
Die Wellen prallten gegen den Rumpf der Wilden Sau und ließen das Boot bocken, als würde auch sein Metallleib von Angst geschüttelt.
»Vorwärts!«, erklang Hornboris Befehl, wenn auch mit zittriger Stimme.
Galar traute seinen Ohren nicht. Der Schisser gab einen Angriffsbefehl? Jetzt?
Auch Ulur blickte zweifelnd zu ihrem Heermeister.
»Vorwärts!«, befahl Hornbori ein weiteres Mal, drängender und entschlossener.
»Volle Kraft voraus!«, rief der Kapitän durch das Luk hinab.
»Aye! Volle Kraft voraus!«, ertönte die Bestätigung aus dem Schiffsrumpf.
Galar fasste es nicht. Hornbori führte sie in einen Angriff. Nicht nur das – es war der reine Selbstmord! Das musste dem Schisser doch klar sein, oder verließ er sich darauf, dass er wieder einmal Glück hatte?
»Ich wünschte, wir hätten eine der Speerspitzen, die Eikin uns gestohlen hat.« Nyr legte einen der normalen Speere auf die Führungsschiene des Geschützes.
»Ich wünschte, wir wären gar nicht erst hier. Wir haben Krieg mit den Drachen. Nicht mit dem Ding da …«
»Vielleicht haben die Himmelsschlangen das auch erraten und uns deshalb hierhergeschickt.«
»Wie?«
Nyr lachte auf. »Hornbori war bei ihnen. Sie können in Gedanken lesen.«
Galar hieb mit der Faust auf die Speerschleuder. »Ich hab es immer gewusst. Dieser Schisser ist unser Untergang. Ich …«
»Verreiß das Geschütz nicht!«
»Wie kannst du so gelassen bleiben, Nyr?«
»Das bin ich nicht. Ich bepiss mich gleich vor Angst … Aber was hilft es? Wir sind hier. Alles, was wir noch tun können, ist, mit Ehre unterzugehen.«
Galar griff nach seiner Armbrust. »Ich stanze dem Biest ein Loch ins Hirn. Der wird sich für immer an mich erinnern. Die Drachentöterpfeile …«
Nyr stieß ein freudloses Lachen aus. »Sieh ihn dir an. Der merkt das nicht mal, dass wir ihn getroffen haben.«
Weitere Wellen brandeten gegen die Aale. Die Bestie drehte sich nun ganz zu ihnen um. Hunderte Tentakel hingen von ihr hinab. Manche groß wie Festungstürme. Selbst die kleineren der Fangarme hatten noch den Durchmesser der Stämme von hundertjährigen Eichen. Gelbe Augen mit riesigen Pupillen blickten auf sie herab.
Ein Geräusch wie das Seufzen eines beschädigten Blasebalgs hallte über die See. Sie waren noch etwa dreihundert Schritt von dem Ungeheuer entfernt.
»Schießt auf die Augen der Bestie!«, schrie Hornbori.
»Das wird nicht helfen«, murmelte Nyr. »So ein Speer im Auge stört das Vieh nicht mehr als unsereins ein Wimpernhärchen.« Dennoch richtete er die Speerschleuder auf eines der Augen aus, wartete, bis sie die nächste Welle abgeritten hatten, und schoss.
Etliche Speere sirrten dem Ungeheuer entgegen. Die meisten waren schlecht gezielt. Sie verschwanden im Gewirr der Tentakel oder in den tiefen Falten, die das Auge umgaben. Nur wenige fanden ihr Ziel. Das Ungeheuer gab einen zischenden Laut von sich.
»Immerhin hat es gemerkt, dass wir angreifen«, murmelte Galar, während Nyr erneut die Speerschleuder spannte.
Die Bestie hob einige ihrer Fangarme. Es sah aus, als wollte das Ungeheuer die Wolken vom Himmel reißen. Dann schnellten die Fangarme in ihre Richtung. Sie waren lang! Viel länger, als Galar erwartet hätte. Ohne Mühe griffen sie die beiden Aale auf den äußersten Flanken ihrer Halbmondformation und zogen sie aus dem Wasser. Metall kreischte, als die Tentakel die kupferbeschlagenen Rümpfe zerquetschten.
Galar sah die Schützen fallen und einige Männer aus dem Turmluk springen. Für die meisten jedoch wurde das Tauchboot zum Grab.
Der Lotse, der vor ihnen am Bug gekauert hatte, wich zurück.
»Wir müssen abhauen!«, brüllte Ulur. »Zurück, Männer! Volle Kraft zurück.«
Galar blickte zum Heermeister. Es war höchste Zeit, dass er Führungskraft zeigte. Er sollte einen Befehl an die Flotte geben. Doch er kommandierte nicht einmal ihr Boot. Er überließ es Ulur zu befehlen und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu dem Ungeheuer empor.
Die Kreatur schwenkte immer noch die zerstörten Tauchboote.
Ihr Aal wurde langsamer, stockte kurz in der Bewegung und begann sich dann, ohne gewendet zu haben, rückwärts von dem Ungeheuer fortzubewegen.
Einzelne Speere schossen der Bestie entgegen. Die meisten Aale hatten ebenfalls den Angriffskurs aufgegeben. Dennoch war der Kampfgeist der Krieger nicht völlig erloschen.
Das Ungeheuer schleuderte eines der Bootswracks in ihre Richtung. Es verfehlte die Wilde Sau um einige Schritt, doch schlug es nahe genug aufs Wasser, dass Galar sehen konnte, wie Blut aus dem deformierten Rumpf troff. Gischt sprühte über sie hinweg.
Galar strich sich über das Gesicht. Endete hier alles?
»Zweihundert Schritt, was meinst du?« Nyr betätigte den Auslöser des Geschützes, ohne einen Speer eingelegt zu haben. »Er ist in Reichweite der Armbrüste. Wollen wir ihn bluten lassen?«
»Allein schon für unsere toten Kameraden!« Galar war dankbar, aus seinen Gedanken gerissen zu werden. Wenn sie schon untergingen, dann zumindest kämpfend. Er griff nach der Armbrust, die er mit einer Schnur an den Sockel der Speerschleuder gebunden hatte.
»Wohin schießen wir?«
»Mitten durch den Kopf kann eigentlich nicht schaden, oder?« Nyr drehte die Kurbel seiner Windenarmbrust, bis die Sehne einrastete, und legte einen Bolzen auf.
Plötzlich war Hornbori hinter ihnen. »Ihr legt ihn um, nicht wahr? Jetzt …« Er sah auf die Armbrüste, und Panik stand in seinem Blick.
»Ja, sie sind klein unsere Armbrustbolzen,« sagte Nyr gelassen.
»Ihr schafft das, nicht wahr?«
Nyr hob die Waffe an die Schulter.
»Stör uns nicht, Schisser!« Galar hob ebenfalls seine Waffe.
Er hätte schwören mögen, dass die Bestie in diesem Augenblick genau auf sie hinabsah. Sie wusste, was sie wollten.
Der Schmied zielte auf die hochgewölbte Stirn über den Tentakelbündeln. Nyr und er schossen fast gleichzeitig.
»Lasst den Scheiß!«, rief Ulur. »Los, steigt durchs Luk! Wir brauchen jedes Paar Beine an der …«
Die Bestie stieß ein hohes, zirpendes Geräusch aus. Wie ein Messer stach es Galar in die Ohren. Nyr ließ seine Armbrust fallen und presste sich beide Hände auf die Ohren.
Hornboris Mund klaffte auf. Er schrie, doch Galar hörte nichts mehr außer den hohen Schmerzenslauten des Ungeheuers. Dann sah er Blut aus den Ohren des Heermeisters tropfen. Hornbori packte ihn und Nyr bei den Haaren und zog sie mit sich.
Ulur war schon durch das Luk verschwunden.
Der Schrei der Bestie veränderte sich und klang nun wie Kreide, die über eine Schiefertafel kratzte. Es war ein Geräusch, bei dem sich Galar sämtliche Haare am Körper aufrichteten. Es ging durch und durch, nistete sich tief im Inneren der Knochen ein und drohte sie bersten zu lassen.
Nyr blutete inzwischen auch aus der Nase. Seine Augen waren nach oben verdreht, sodass fast nur noch das Weiße zu sehen war. Nur mit Hilfe von Hornbori gelang es Galar, den halb bewusstlosen Richtschützen durch das Luk zu bugsieren. Anschließend warf er Ulur, der unten an der eisernen Leiter stand, ihre Armbrüste zu.
Alle Tentakel der Bestie waren in Bewegung. Sie peitschten das Wasser zu flachen Wellen auf oder streckten sich in ihre Richtung. Nur nach ihnen. Die anderen Aale schienen das Ungeheuer nicht mehr zu interessieren. Es wusste genau, wer ihm den Schmerz zugefügt hatte.