Die Wilde Sau lief nun mit voller Kraft rückwärts. Ganz langsam vergrößerte sich der Abstand zu diesem Berg aus lebendem Fleisch. Das Ungeheuer war nicht sonderlich schnell. Vielleicht war das Wasser zu seicht, um zu schwimmen? Es ging nicht auf seinen Tentakeln, aber Galar vermochte nicht hinter den Vorhang aus zuckenden Fleischsträngen zu blicken. Hatte es Beine? Wenn es durch das flache Wasser watete, dann sollten sie besser nicht versuchen, an Land zu gehen. Es könnte ihnen auch dorthin folgen. Und in tiefes Wasser wagten sie sich besser auch nicht. Dort war dieser zu groß gewordene Tintenfisch sicherlich in seinem Element.
Was sie brauchten, war eine Höhle. Ein Ort, an dem sie tief in die Eingeweide der Erde kriechen konnten, um dem Zorn der Bestie zu entkommen. Sie mussten zurück nach Asugar! Nur dort waren sie sicher.
Eins mit dem Ozean
Vorsichtig schob Nodon sich unter der Lederschwinge des Sonnendrachen hindurch. Die Haut des Flügels war hart und zäh geworden. Verwesungsgestank lag über dem flachen Riff am Fuß der Steilklippe.
Als er das Ende der riesigen Schwinge erreicht hatte, blickte er über das Wasser. Eine halbe Meile entfernt sah er die Menschenkinder gegen den Gezeitenstrom kämpfen. Sie hatten zwei große Flöße gebaut und versuchten, das Festland zu erreichen.
Nodon drehte sich auf den Rücken und blickte den Steilhang hinauf. Hoch über sich entdeckte er weitere Menschen, die von kreischenden Möwen umkreist wurden. Sie hingen an langen Seilen und plünderten Vogelnester. Litten auch sie Hunger?
Gestern Nacht war er hinabgetaucht und hatte einen der Aale erlegt, die sich in die Eingeweide des toten Drachen wühlten. Er hatte keinen Bissen von diesem schlangenartigen Fisch essen können. Er war ein Drachenelf! Wie hätte er etwas verspeisen können, was sich vom Aas seiner Herren genährt hatte? Aloki und Solaiyn jedoch waren hocherfreut gewesen. Vier Tage verbargen sie sich nun schon unter der Schwinge des Drachen. Der Elfenfürst hatte sich erstaunlich gut erholt. Seine Verbrennungen waren gänzlich verschwunden. Nodon hingegen hatte noch immer bei jeder Bewegung das Gefühl, die Haut, in der er steckte, sei ihm zu eng geworden. Es war kein unerträglicher Schmerz, aber er war stetig präsent.
Das Leder der Drachenschwinge knarzte. Aloki schob sich an seine Seite.
»Und?« Ihre zischelnde Stimme verursachte Nodon immer noch Unbehagen. Die Schlangenfrau hatte ihm das Leben gerettet, als sie ihn unter das gekenterte Boot gezogen hatte. Dennoch traute er ihr nicht.
»Was machen die Menschenkinder?«
»Sie verlassen den Felsen. Sie …« Er stutzte. Auf dem weiter entfernten Floß hatte ein Ruderer angefangen, wild zu rufen. Nodon verstand kein Wort. Sie waren zu weit entfernt, und die Brandung, die klatschend ans Riff schlug, überlagerte jedes andere Geräusch. Der Ruderer deutete sichtlich aufgeregt nach Osten. Wenig später machten beide Flöße kehrt und steuerten wieder auf den Eingang der Hafengrotte zu.
»Hornbori kehrt zurück«, sagte Aloki.
Nodon sah die Schlangenfrau überrascht an. »Wie konntest du sie verstehen?«
Sie schenkte ihm einen tiefen Blick aus ihren geschlitzten Pupillen. »Ich sehe gut und kann von den Lippen lesen.«
»Wir müssen ihn warnen, dass ihre Rückkehr entdeckt wurde.«
Aloki schüttelte den Kopf. »Nicht wir. Du! Was glaubst du, was die Zwerge tun werden, wenn ich neben einem ihrer Aale aus dem Wasser auftauche.«
Nodon konnte es sich vorstellen. Er blickte nach Osten über das Meer. Von den kaum über das Wasser ragenden Zwergenbooten war nur eine weiße Bugwelle zu sehen. Hinter ihnen, weit am Horizont, nahte eine Sturmwolke. Ein unförmiger Schatten, der bis zum Wasser hinabreichte.
Nahe dem Riff zogen die grauen Finnen von drei Haien durch das Wasser. Die Kadaver der getöteten Drachen hatten sie schon vor Tagen angelockt. Inzwischen waren sie überall rings um die Steilklippe.
»Ich werde zu den Zwergen schwimmen und sie warnen«, entschied Nodon.
Aloki bedachte ihn mit einem Lächeln, in dem er nicht zu lesen vermochte. War es spöttisch oder anerkennend?
»Und was wirst du tun?«, fragte er.
»Ich werde dort sein, wo ich am meisten gebraucht werde. Und nun gib mir dein Schwert.«
Er traute seinen Ohren nicht. Sein Schwert! Die Waffe, die ihm Nachtatem anvertraut hatte!
»Es wird dich beim Schwimmen behindern. Und du wirst schnell schwimmen müssen.« Sie warf einen vielsagenden Blick auf die drei grauen Finnen und schob ihm ihren Dolch zu. Eine fremdartige, alte Waffe mit geflammter Klinge, in die seltsame Zeichen geritzt waren. »Mein Pfand. Du wirst dein Schwert zurückbekommen, wenn du zurückkommst.«
Nodon wusste, selbst wenn ihm etwas geschah, würde das Schwert nicht verloren sein. Der Zauber, der in der Klinge lag, würde sie zurück zum Dunklen bringen. So löste er wortlos den Waffengurt, streifte seine versengten Kleider ab, band Alokis Klinge samt Lederscheide an seinen linken Oberarm, sodass der Griff nach unten zeigte, und glitt lautlos vom Riff ins Wasser.
Mit kräftigen, ruhigen Zügen schwamm er gen Osten, den Zwergen entgegen. Er kannte einige Geschichten über Haie. Angeblich lockten unruhige Bewegungen sie an – alles, was an das Zucken eines verwundeten Tiers erinnerte. Nodon sprach ein Wort der Macht, griff in Gedanken nach dem fremdartigen Netz der Magie, das über diese Welt gesponnen lag. Er wurde eins mit dem Wasser, war wie der Ozean, fließend und machtvoll.
Wie sehr er dieses Gefühl liebte – das Leben zu spüren, das ihn umgab. Die Muscheln auf dem Riff, die wilde Lust der Aale, die sich an den gefallenen Drachen labten. Den Hunger der Haie, die Aufmerksamkeit der Krebse und die Hoffnung der Sardinen, die wie ein Wolke aus lebendem Silber in vollkommener Harmonie miteinander durch das lichtdurchflutete Wasser glitten.
Flache Wellen schlugen Nodon in stetem Rhythmus ins Gesicht, als wollte der Ozean ihn für seine Vermessenheit züchtigen, so sein zu wollen wie er: unermesslich und ein Hort von Leben und Tod.
Der Elf schwamm unbeirrt weiter. Es waren nur Wellen, dachte er. Nur Wellen.
Da spürte er es. Den Hunger, der einen Blick auf ihn gerichtet hatte. Ein keilförmiger Kopf, der in seine Richtung schwang. Ein Maul mit Reihen voller messerscharfer Zähne.
Die Aale der Zwerge waren noch mindestens dreihundert Schritt entfernt. Nodon blickte über die Schulter und sah die Finne, die auf ihn zuhielt. Erschreckend schnell. Er würde ihr niemals davonschwimmen können. Würde die Aale nicht erreichen.
Nodon füllte seine Lunge mit Luft und tauchte unter. Deutlich sah er den Räuber im sonnendurchfluteten Wasser. Er hatte einen weißen Bauch. Vorsichtig näherte er sich und wich ihm dann aus. Schwarze Knopfaugen musterten Nodon. Augen wie seine Augen. Der Hai umkreiste ihn und kam wieder zurück.
Der Elf griff sich an den Arm und zog das Messer der Schlangenfrau. Dann breitete er die Arme aus und ließ sich mit dem Kopf nach unten im Wasser treiben.
Plötzlich beschleunigte der Räuber. Sein Maul klaffte auf.
Nodon rollte um die eigene Achse.
Als das gierige Maul ins Leere schnappte, fuhr die Klinge dem Hai in den Unterleib. Sie durchtrennte die zähe Haut. Die Schwimmbewegung verlieh dem Messer noch mehr Kraft, und ein langer Schnitt klaffte im Unterleib des Räubers. Wolken dunklen Bluts wogten im Wasser.
Während der Hai einem Wald aus wogendem Seetang entgegentrudelte, schob Nodon die Klinge zurück in die Lederscheide am Arm.
Zwei kräftige Züge, und sein Haupt durchstieß das Wasser. Gierig atmete Nodon die salzige Meeresluft ein und orientierte sich. Noch zweihundert Schritt bis zu den Aalen.
Doch ruhig zu schwimmen würde nicht helfen. Der Zauber, den er gewoben hatte, verband ihn noch immer mit dem magischen Netz. Er spürte den Zorn. Spürte, wie diese Welt ihn als Eindringling betrachtete. Oder war es Nangog, die er spürte?