Выбрать главу

Bevor sie das Zimmer verließ, verbarg sie ihren nunmehr kahlen Schädel unter einem kunstvoll gewickelten Turban von dunkelroter Farbe und nahm noch ihren Reservemantel aus dem Koffer, den sie sich allerdings nur lose über den linken Arm hängte. Ganz kurz überlegte sie, eine Waffe mitzunehmen, entschied sich aber dann dagegen. Sie wollte schließlich nicht in den Krieg ziehen, sondern nur nach Isis suchen.

Auch wenn ihr Mrs Walshs Reaktion auf die Adresse vielleicht Anlass zu der einen oder anderen Überlegung gegeben hatte.

Sie hatte noch Zeit, bis ihr Fahrer kam, verspürte aber wenig Lust, allein in ihrem Zimmer zu bleiben und ging wieder nach unten. Das Haus war noch immer so still wie bei ihrer Ankunft.

Sie war im Moment entweder tatsächlich der einzige Gast, oder die übrigen Pensionsgäste waren noch in ihren Angelegenheiten unterwegs und kamen später. Ihr sollte es recht sein.

Im Kamin prasselte ein behagliches Feuer, und sie hörte die Zimmerwirtin im hinteren Teil des Hauses hantieren, ging aber nicht sofort zu ihr, sondern suchte zuvor die Latrine auf, die sich in einem Holzverschlag im Innenhof der Pension befand. Sie musste nicht danach fragen - der Gestank wies ihr den Weg. Er war erbärmlich, und er wurde noch schlimmer, als sie die Tür öffnete und in den winzigen Verschlag trat.

Heftig schluckend, um die Übelkeit niederzukämpfen, die aus ihrem Magen emporsteigen wollte, warf sie ihr abgeschnittenes Haar in den kreisrunden Ausschnitt in der hölzernen Sitzfläche und fragte sich nicht zum ersten Mal, wieso sich die Abendländer eigentlich für die überlegene Kultur hielten oder jemals hatten halten können, wo sie doch offensichtlich nicht einmal wussten, dass eine Handvoll Kalk ausreichte, unangenehme Gerüche zu binden.

Als sie ins Haus zurückkehrte, prasselte das Feuer im Kamin höher, und Mrs Walsh hatte zwei winzige Tässchen und eine Kanne mit frisch aufgebrühtem Tee auf den Schachtisch gestellt und wartete offenbar bereits auf sie.

Bast sah flüchtig auf die große Standuhr. Sie hatte noch etwas Zeit, bis die bestellte Droschke kam, und nichts dagegen, noch ein wenig zu plaudern. Noch bevor Mrs Walsh ihr einladend zuwinken konnte, nahm sie von sich aus Platz und legte den Mantel neben sich auf den Boden.

»Ich hoffe, ich wirke nicht allzu aufdringlich«, sagte Mrs Walsh, während sie Tee in eine der zierlichen Tassen goss und sie dann über den Tisch hinweg in ihre Richtung schob. »Aber ich kam nicht umhin, die Zeit zu erfahren, zu der Sie den Wagen bestellt haben, und als ich gerade gehört habe, dass Sie die Treppe herunterkommen ...«

»Schon gut«, unterbrach Bast sie. »Ich bin völlig fremd in dieser Stadt und ganz froh, überhaupt mit jemandem reden zu können.«

»Sie sind das erste Mal in England?«, fragte Mrs Walsh. Bast nickte, und sie nippte an ihrem Tee und fuhr fort: »Dafür sprechen Sie unsere Sprache ganz ausgezeichnet, wenn ich das sagen darf.«

»Danke.« Bast lächelte über dieses Kompliment, von dem sie spürte, dass es ehrlich gemeint war. Aber natürlich verstand sie auch die Frage, die sich dahinter verbarg. »Es befinden sich genügend Mitglieder des britischen Empire in meiner Heimat«, sagte sie. »Außerdem ist ihre Sprache recht einfach zu lernen. Ganz im Gegensatz zu manchen Dialekten meiner Heimat.«

»Erzählen Sie das den Kindern in unseren Schulen!«, erwiderte Mrs Walsh amüsiert. »Ich bin sicher, sie teilen Ihre Meinung nicht unbedingt.« Sie nippte an ihrem Tee, während sie das sagte, aber Bast entging natürlich nicht, dass sie sie dabei über den Rand ihrer zierlichen Tasse weiter sehr aufmerksam musterte.

»Immerhin gibt es hier nur eine Sprache«, antwortete Bast, »nicht gleich ein ganzes Dutzend, wie in manchen Regionen meiner Heimat.«

Diesmal klang Mrs Walshs Lachen noch amüsierter. »Oh, was das angeht, befinden Sie sich im Irrtum, meine Liebe«, behauptete sie. »Gehen Sie nur ein paar Straßen weiter, und Sie können durchaus das Gefühl haben, auf einem anderen Kontinent zu sein. Das reinste babylonische Sprachgewirr.« Sie nahm einen weiteren winzigen Schluck aus ihrer Tasse, stellte sie behutsam auf den Tisch zurück und fragte dann, immer noch lächelnd, zugleich aber auch in beinahe besorgtem Ton: »Ich hoffe doch, Sie hatten keinen Ärger mit diesen ›Mitgliedern des britischen Empire‹, von denen Sie gerade gesprochen haben.«

»Nicht im Geringsten«, versicherte Bast. »Im Gegenteil. Wir sind Kaufleute. Schon in der ...«, sie tat so, als müsse sie einen Moment angestrengt überlegen und lachte dann leise, »... ich glaube, hundertsten Generation oder so. Meine Familie lebt vom Handel mit Gewürzen und anderen Dingen, so lange unsere Familiengeschichte zurückreicht. Ein gutes Verhältnis zu Fremden ist sozusagen unser Betriebskapital. Deshalb bin ich auch hier.«

»Ich dachte, um Ihre Freundin zu suchen?«, erkundigte sich Mrs Walsh in harmlos klingendem Ton, der alles war, nur nicht das. Ihr Blick tastete aufmerksam über Basts Gesicht, und für die Dauer eines Herzschlages erschien ein Ausdruck von Irritationen in ihren Augen, während er an dem kunstvoll gewickelten Turban hängen blieb. Vorhin, überlegte Bast, als sie hereingekommen war, hatte sie die Kapuze ihres Mantels so weit nach vorne getragen, dass von ihrem Gesicht darunter nicht allzu viel zu erkennen gewesen sein konnte. Aber vermutlich hatte sie dennoch einen Schimmer ihres auffälligen Haares gesehen und fragte sich nun, ob sie sich getäuscht und in Wahrheit vielleicht das rote Tuch wahrgenommen hatte - dessen Farbe Bast im Übrigen aus keinem anderen Grund gewählt hatte.

»Nun, das eine schließt das andere nicht aus, nicht wahr?«, gab sie zurück, schüttelte aber zugleich auch den Kopf und nippte wieder an ihrem Tee, um Zeit zu gewinnen. »Meine Schwester Isis - ich nenne sie so, obwohl sie nicht wirklich meine Schwester ist; unsere Verwandtschaftsverhältnisse sind ziemlich kompliziert - ist nicht nur eine gute Freundin, sondern arbeitet auch in unserem Geschäft. Meine Familie hat sie hierher geschickt, um sich um unsere Angelegenheiten in England zu kümmern.«

»Und seither haben Sie nichts mehr von ihr gehört«, vermutete Mrs Walsh.

»Wie kommen Sie darauf?«, erwiderte Bast, leicht überrascht. Das kam der Wahrheit ziemlich nahe.

»Ich schließe es aus der Tatsache, dass Sie hier sind, meine Liebe«, antwortete Mrs Walsh. »Es ist nicht gerade ein Sonntagsausflug von Afrika nach London, nicht wahr? Außerdem - wenn Sie mir meine Offenheit verzeihen - schwingt ein gewisser Unterton von Besorgnis in Ihrer Stimme mit, immer, wenn Sie über Ihre ... Schwester reden.«

Bast sagte nicht gleich etwas dazu, sondern sah Mrs Walsh etliche Sekunden lang abschätzend an. Für jeden anderen an ihrer Stelle wäre diese Antwort vielleicht genug gewesen, aber Bast hatte schon vor sehr langer Zeit lernen müssen, sich selbst und ihre Gefühle gut genug in der Gewalt zu haben, um niemandem einen Blick hinter die Maske zu gestatten.

Gleich darauf bewies Mrs Walsh jedoch, was für eine hervorragende Beobachterin sie war, denn sie lächelte ein kurzes, ein wenig verlegenes Lächeln, wie ein Kind, das man bei einer kleinen Verfehlung ertappt hat, das aber auch weiß, dass es nicht mit einer harten Bestrafung rechnen muss, und fuhr fort: »Nun ja, und die Adresse, die Sie mir gezeigt haben ...«