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»Weiter!« befahl Jakob. »Ich bin krank! Sie haben die Pflicht, die Krankheit festzustellen! Ihre beschworene Pflicht ist das! Das wissen Sie genau! Sie haben schließlich den Eid von diesem Hip … von diesem Hip … den Eid von diesem Dingsda geleistet! Vorwärts! Weiter! Wahrscheinlich sind es die Lungen!«

Also durchleuchteten sie ihn. Machten Röntgenaufnahmen der Lungen. Machten Schichtaufnahmen.

Es kam nichts dabei heraus.

»Dann ist es die Prostata!« zürnte Jakob.

Also untersuchten sie seine Prostata. Das ist eine nicht eben angenehme Untersuchung. Da wird einem eine lange Sonde in das kostbarste Gut geschoben und – na ja, und so weiter. Jakob genoß die Untersuchung. Beleidigt war er, als man ihm erklärte, auch mit seiner Prostata sei alles in Ordnung.

»Dann habe ich einen Tumor«, erklärte er grimmig. »Los, aufmachen den Schädel!«

»Aber das EEG war doch völlig normal …«

»Na und? Was ist schon so ein Scheiß-EEG? Haben wir in Jakob Formanns Großklinikum nichts Besseres?«

»Wir könnten eine kalte Operation machen …«

»Was ist das?« forschte Jakob mit lustbetonten Zügen. »Schichtaufnahmen des ganzen Schädels mit Röntgenstrahlen.« Jakob war begeistert.

»Na los, los, los, meine Herren! Worauf warten Sie noch? Ein bißchen Beeilung, wenn ich bitten darf!«

Also Schichtaufnahmen des ganzen Schädels.

Kein Tumor. Jakob war beleidigt.

»Kann man auch Schichtaufnahmen vom ganzen Körper machen? Von allen Organen?«

»Ja, das kann man natürlich, aber wirklich, Herr Formann …«

»Nichts ›aber wirklich, Herr Formann‹! Geht es hier um Ihr Leben oder um das meine?«

Das trieb er eine Woche so weiter.

Heraus kam: Jakob war kerngesund.

Als man ihm das sagte, begann er zu toben.

»Kerngesund! Daß ich nicht lache! Sie finden meine Krankheit nicht! Scharlatane sind Sie! Und so was bezahlt Jakob Formann! Ungeheuerlich! Weiteruntersuchen!«

Sie untersuchten ihn weiter. Der erste, der zusammenklappte, war Professor Klappke. (Dem Namen nach hatte er das größte Recht dazu!) Andere Herren folgten.

Jakob forderte neue Untersuchungen und amerikanische Spezialisten an, die eingeflogen wurden. Er schaffte auch die amerikanischen Spezialisten. Zuletzt war das Funktionieren der Anstalt gefährdet – immer mehr Ärzte verloren ihr seelisches Gleichgewicht.

Professor Dr. Eberhard Weidenhaus berief einen Großen Krisenstab ein. Man bedachte stundenlang, was man mit Jakob Formann tun könne, damit dieser nicht Gesundheit und Leben aller Ärzte des Großklinikums gefährde. Weidenhaus hatte die erlösende Idee.

»Abführmittel! So viel Abführmittel, wie in den Kerl reingehen!« Ein Jubelruf aller Anwesenden!

»Aber kein Mensch sagt auch nur ein einziges Wort von Abführmitteln! Kein einziges Wort!«

Eine Viertelstunde später bekam Jakob dann die erste große Portion Abführmittel. Zwei Stunden später die nächste. Zwei Stunden später saß er dann auf dem Klo.

Er saß – mit kleinen Unterbrechungen – fünf Tage lang auf dem Klo und verlor in dieser Zeit elf Kilogramm Gewicht. Sein Gesicht war totenbleich, die Hände zitterten, die Beine schlotterten, er konnte sich nur an der Wand entlang zwischen Bett und Klo hin und her bewegen, und wenn er im Bett lag, schlief er sofort ein. Abführmittel in hohen Dosen machen nämlich auch noch ungemein müde.

Sie machten Jakob eine ganze Woche lang ungemein müde. Danach fühlte er sich so wie ein nasses Handtuch, wenn ein nasses Handtuch sich wie ein nasses Handtuch fühlen könnte. Jetzt war ihm nicht mehr schlecht. Jetzt war er nur ungeheuer traurig, denn er hatte einsehen müssen, daß er kerngesund war.

Diese Trauer dauerte an bis zum 21. August 1962. Am Abend des 21. August 1962 kam die bildhübsche Schwester Kirsten in sein Zimmer, lächelte verführerisch und meldete einen Besuch an.

40

»Tag, Chef«, sagte Klaus Mario Schreiber. Er schüttelte dem entgeisterten Jakob kräftig die Hand. Schreibers Akne war verschwunden, nur noch kleine Narben erinnerten an sie. Er hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, ein freundliches Gebaren, und er trug einen Morgenmantel über dem Pyjama.

Unser Freund holte röchelnd Luft.

»Schreiber!« ächzte er überwältigt. »Wie kommen Sie hierher? Meinetwegen?«

»Nicht direkt.«

»Was heißt ›nicht direkt‹?«

»Na ja«, sagte Schreiber, »ich liege auch hier drin in diesem Großklinikum.«

»Sie auch? Seit wann?«

»So acht Wochen werden es wohl sein. Ich stehe vor der Entlassung.« Schreiber setzte sich und schlug die Beine übereinander.

»Entlassung?« Jakob war entsetzt. »Sind Sie krank gewesen?«

»Ziemlich, Chef.«

»Der … Entschuldigen Sie, Schreiber … der Suff, was? Der Suff hat Sie endlich geschafft, wie?«

»Ja, Chef. Mitten in der Arbeit, an einem neuen Roman noch dazu. BIS ZUM LETZTEN TROPFEN heißt er. Jetzt werde ich ihn fertigschreiben. Aber beim LETZTEN TROPFEN, da ist es von einer Sekunde zur anderen gekommen! Ich habe immer gesagt, solange ich schreiben kann, kann ich auch saufen. Wenn ich nicht mehr schreiben kann, höre ich einfach mit dem Saufen auf. Habe ich gesagt. Und gedacht. War nur nicht so. Die meisten Sachen im Leben kommen ganz anders, als man sie sich vorstellt. Beim Schreiben bin ich umgekippt. Einfach umgekippt! Na ja, und weil Sie doch angeordnet haben, daß alle Ihre Mitarbeiter hierher nach Berlin gebracht werden, wenn sie krank sind, in Ihr Großklinikum, haben sie auch mich hergebracht – in einem Flugzeug, höre ich. Ich weiß nichts davon. In meinem Leben fehlen vier Tage.«

»Bei mir sind es sechs, Schreiber«, sagte Jakob erschüttert. »Was war’s denn bei Ihnen? Delirium?«

»Fast, Chef. Fast. Es ist dann bei Halluzinationen geblieben. Akustischen. Dauernd habe ich Stimmen gehört. Unangenehme Sachen haben die gesagt. Die Stimme vom Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Ärmchen. Von Frau Doktor Malthus. Von meinen letzten vier Freundinnen.«

»Sie haben vier Freundinnen in letzter Zeit gehabt?«

»Nicht in letzter Zeit, Chef. Alle auf einmal. Darum war da ja auch alles so unangenehm, was ich zu hören glaubte. Na, lassen wir das. Es ist vorbei. Ich brauche noch eine Weile Psychotherapie, dann bin ich wieder okay. Ich habe ein Riesenschwein gehabt, Chef. Der Arzt, der mich in der Psychiatrischen Abteilung behandelt hat, ist wirklich der beste Psychiater, den es gibt!«

»Jakob Formann hat nur die besten Ärzte, Schreiber.«

»Ja, ja, schon. Aber der Arzt, der mich wieder hingekriegt hat, das ist wirklich ein Genie! Der hat eine ganz große Zukunft vor sich. Wissen Sie, was das tollste ist? Wir sind zusammen in die gleiche Schule gegangen! Haben uns dann nie mehr gesehen. Erst wieder hier. Das ist vielleicht ein Kerl, Chef. Der hat mich übern Berg gebracht – für immer.«

»Hoffentlich«, murmelte Jakob. »Ich will Sie nicht erschrecken, aber die Rückfallquote bei Alkoholikern ist …«

»… sehr hoch, ich weiß. Und ich würde ja auch bestimmt rückfällig werden, sagt der Cornel – so heißt dieser Psychiater mit dem Vornamen, wissen Sie, Chef –, wenn ich nicht ein so feiges Schwein wäre.«

»Sie sind doch kein feiges …«

»Haben Sie eine Ahnung, was für eines, Chef! Wenn ich nicht so feige wäre, hätte ich doch mein Leben lang nie so schreiben können! Die Mutigen, das sind die, die keine Phantasie haben, die sich nicht vorstellen können, was möglich wäre. Besonders die Helden – also das sind die größten Idioten! Aber ich, ich habe mir immer alles vorstellen können, das Verrückteste, Abenteuerlichste, Schlimmste.«

»Und es aufgeschrieben.«

»Und es aufgeschrieben. Und da sagt jetzt der Cornel, mein Schulfreund: Klar würdest du sofort wieder saufen, wenn du nicht ein so feiges Schwein wärst und dir jetzt in Erinnerung an deine Halluzinationen und all das andere Unangenehme beständig in die Hosen scheißen würdest. Vielleicht wirst du noch haschen oder koksen oder fixen oder LSD nehmen – aber niemals im Leben mehr Whisky. Denn vor dem hast du jetzt eine viel zu große Angst! Toller Kerl, wie?« Schreiber schüttelte den Kopf. »Ich quatsche dauernd von mir. Deshalb bin ich nicht zu Besuch gekommen, Chef.«