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Das Schicksal hatte es für sie abgeschrieben. Mit vierundsiebzig war sie, obwohl ein wiederkehrendes taubes Gefühl in den Beinen sie hätte warnen sollen, an den südlichen Colorado River gereist, um abzuschätzen, wem man die Wildwasserfahrten dort zumuten konnte. Die gefährlichsten Strecken hatte sie nicht selbst getestet. Sie hatte die Führer gefragt. Sie war nicht verrückt, meine Großmutter. Sie sollte mögliche Abenteuer für Menschen ihres Alters erkunden und nötigenfalls davon abraten. Dem wilden Naß konnte sie mit vierundsiebzig wenig abgewinnen; sie wollte, so schnell es ging, nach Hause und hatte sich über die ersten Anfälle von Fieber und Schüttelfrost lediglich geärgert. Dann verzögerte sich die Heimreise; einen halben Tag mußte sie am Flughafen aushalten, bis eine Ersatzmaschine für den Rückflug nach England gefunden war. Sie hatte mir vom Flughafen eine Karte geschrieben, die ich freilich erst drei Wochen später bekam:

Lieber Perry,

mir wird ganz unheimlich, wenn ich an den Flug hier

denke, aber der nächste geht erst in fünf Tagen. Mach ’s

gut. Ich habe mich erkältet. Auf immer,

Deine Oma.

Auf dem langen, unheimlichen Nachtflug von Phoenix, Arizona, nach London verloren ihre Beine zusehends an Muskelkraft, und als die Maschine am nächsten Morgen wohlbehalten in Heathrow landete, fühlte sich ihr ganzer Unterkörper taub an. Ganz langsam war sie zur Paßkontrolle gegangen, und danach hatte sie kaum je wieder einen Schritt getan.

Nach stundenlangen intensiven Untersuchungen erfuhren wir, daß die Ursache des Problems ein Meningeom war, ein von der Hirnhaut ausgehender, an sich gutartiger, aber harter Tumor, der sich in der Wirbelsäule festgesetzt hatte, langsam gewachsen war und jetzt auf die Spinalnerven drückte. Wohlmeinende und offenkundig besorgte Ärzte versuchten es mit Steroiden noch und noch, aber ohne Erfolg. Ein chirurgischer Eingriff, haarklein erörtert und sorgfältig ausgeführt, beeinträchtigte die Blutversorgung der Wirbelsäule und machte alles nur schlimmer.

Die bösen Vorahnungen meiner Großmutter durfte man niemals leichtnehmen.

Böses hatte ihr auch an dem Tag geschwant, als sie achtzehn Stunden durchgefahren war, um meine zaudernden Eltern persönlich zum Auszug aus ihrem geliebten Haus zu bewegen, um dann bei ihrer Ankunft zu sehen, wie das Haus samt Eltern in die Luft flog. Weniger schlimm waren ihre Vorahnungen an dem Tag gewesen, als mich ein Golfwagen anfuhr und ich mir das Fußgelenk brach, aber ein ganz böses Vorgefühl hatte uns davon abgehalten, in einem Tal Ski zu fahren, in dem dann eine Lawine niederging, die uns unter sich hätte begraben können.

Als Ärzte und Patientin sich mit der ungnädigen Hirnhaut abgefunden hatten, versuchte meine früher so aktive Großmutter, ihre eingeschränkte Erwerbsfähigkeit mit Humor zu nehmen, befürchtete aber, sie würde von ihren Arbeitgebern aufs Altenteil geschickt. Statt dessen ließen sie sie Artikel über Tagesausflüge und Ferienreisen für Behinderte schreiben, und ich fand einen privaten Pflegedienst, der sicherstellte, daß im wöchentlichen Wechsel immer eine Pflegerin bei meiner Großmutter wohnte und für sie da war. Sie pflegten sie, kauften ein und kochten für sie, kleideten sie an und fuhren mit ihr zu reisetipwürdigen Orten. Sie schliefen in dem kleinen rückwärtigen Zimmer, in dem noch meine Physikbücher standen. Wenn sie wollten, konnten sie Schwesternuniform tragen. Aber sie mußten sich — darauf bestand meine Großmutter — die Wetterberichte ansehen.

Erst eine der Pflegerinnen hatte sich als Reinfall erwiesen: eine unansehnlich dicke, Trübsinn blasende Frau, die ihren Hund mitbrachte. Meine Großmutter zog ungebundene, hübsche Engel im Enkelinnenalter vor, und der Pflegedienst mußte zu seiner Überraschung feststellen, daß die Mädchen richtiggehend darum baten, öfter eine Woche bei der alten Frau zu verbringen.

Am Donnerstag nach Caspar Harveys Lunch erzählte ich meiner Großmutter von der kranken Stute und stellte fest, daß sie mehr darüber wußte als ich; eigentlich keine Überraschung, denn sie verschlang Zeitungen mit rasender Geschwindigkeit, und als erfahrene Journalistin verstand sie zwischen den Zeilen zu lesen.

«Caspar Harvey wird sich von Oliver Quigley trennen, meinst du nicht, Perry?«bemerkte sie.»Wenn seine Tochter zu Loricroft geht, kriegt der auch seine Pferde.«

Da ihre Arme und Hände mit der Zeitung halbwegs zurechtkamen, hielt sie sie wie gewohnt auf den Knien. Ich sah zu, wie sie sich damit abmühte, denn sie machte das lieber allein. Erst wenn sie mit einem verärgerten kleinen Seufzer die Blätter auf den Schoß sinken ließ, war sie bereit, sich helfen zu lassen.

Wie immer — auch wenn sie und die diensttuende Pflegerin eine Stunde oder länger dafür brauchten — sah sie frisch, adrett und hinreißend aus, diesmal in einem dunkelblauen, spitzengesäumten Hauskleid mit einer StraßGeranie in Silber und Weiß am linken Revers und silbernen Lackschuhen an den unbrauchbaren Füßen.

Ich fragte verwundert:»Wie kommst du darauf, daß Harvey seine Pferde wegnimmt?«

«Er ist auf Ruhm aus. Und hast du mir nicht schon immer gesagt, Oliver Quigley sei ein unverbesserlicher Schwarzseher?«

«Mag sein.«

Der Rollstuhl stand auf ihrem Lieblingsplatz am Fenster, und ich saß in einem schweren Sessel neben ihr, so daß wir beide zusehen konnten, wie die schreienden Möwen sich über dem Schlick jagten, ein Schauspiel, bei dem der Aggressionstrieb so unverhüllt und beispielhaft zutage trat, daß meine Großmutter meinte, auch Kriege zwischen Menschen seien naturgemäß und unvermeidlich.

An diesem Donnerstag nachmittag schien mir ihre Lebenskraft ebenso tief zu stehen wie die Ebbe, sosehr sie es auch zu überspielen bemüht war, und das beunruhigte mich stark, denn an ein Leben ohne sie mochte ich nicht denken.

Sie war von jeher nicht nur eine Ersatzmutter für mich gewesen, die Pflaster fürs verschrammte Knie bereithielt, sondern auch geistige Lehrerin, Kumpanin und immer gut für einen Denkanstoß. Die gelegentlichen Revolten meiner Teenagerzeit waren ferne Erinnerungen. Seit Jahren besuchte ich sie jetzt schon regelmäßig, hörte mir ihre vernünftigen Ansichten an, und viele davon hatte ich mir zu eigen gemacht. Sie durfte noch nicht gehen. Ich war noch nicht bereit, sie zu verlieren. Wahrscheinlich war es dafür immer zu früh.

«Wenn Quigley Harveys Pferde verliert…«, sagte ich unbestimmt.

Meine Großmutter hatte ihre eigenen Fragen.»Wer hat die Stute vergiftet? Untersucht das jemand? Tut dein verrückter Freund was in der Richtung?«

Ich lächelte.»Der macht Urlaub in Florida. Ihn verbindet eine Haßliebe mit Caspar Harveys Tochter. Man könnte sagen, er läuft weg.«

Unvermittelt wurde ihr die Harvey-Geschichte zuviel, sie schloß die Augen und ließ die Zeitung zu Boden fallen.

In dieser Woche tat eine neue Pflegerin Dienst, die ich noch nicht kannte, und wie gerufen kam sie lautlos ins Wohnzimmer und hob die Zeitung auf. Meine Großmutter hatte sie mir mit den Worten vorgestellt:»Die nette junge Frau hier ist Jett van Els. Sie wird es dir aufschreiben. Ihr Vater war Belgier.«

Jett van Els mit dem belgischen Vater entsprach Groß-mutters Vorstellung von Jugend und gutem Aussehen vollkommen, und an der adretten blau-weißen Uniform, die ihren hohen schlanken Wuchs betonte, war eine Uhr so festgesteckt, daß ich in den Verdacht sexueller Belästigung geraten wäre, hätte ich nach der Zeit sehen wollen.

Meine Großmutter dämmerte stets nur für ein paar Minuten so weg, doch an diesem Tag dauerte es länger, bis sie wieder aufwachte. Schließlich schlug sie dann aber die runden blauen Augen auf und war wie immer sofort voll da.