Herr und Frau Kohler wollten nicht. Sie verachteten die Medizin. Wer waren sie, dass sie Gottes Meisterplan durchkreuzten? Sie beteten inbrünstiger. Schließlich hatte Gott sie mit diesem Jungen gesegnet - warum also sollte er ihnen das Kind wieder nehmen? Max’ Mutter beugte sich über den Knaben und flüsterte ihm zu, stark zu sein. Sie erklärte, dass Gott ihn prüfe. wie in der biblischen Geschichte den Abraham. eine Prüfung seines Glaubens.
Max bemühte sich zu glauben, doch der Schmerz war unerträglich.
»Ich kann mir das nicht länger mit ansehen!«, sagte einer der Ärzte schließlich und rannte aus dem Zimmer.
Gegen Einbruch der Dämmerung schwebte Max am Rand eines Komas. Jeder Muskel seines Körpers hatte sich vor Schmerzen verkrampft. Wo ist Jesus?, fragte er sich. Liebt er mich denn nicht? Max spürte, wie das Leben allmählich aus seinem Körper wich.
Seine Mutter war neben dem Bett eingeschlafen. Ihre Hände lagen noch immer gefaltet auf ihm. Sein Vater stand auf der anderen Seite des Zimmers am Fenster und starrte düster hinaus. Er schien wie in Trance zu sein. Max hörte das leise Murmeln seiner unablässigen Gebete, Gott möge sich erbarmen.
Da spürte Max plötzlich eine weitere Gestalt über sich. Ein Engel? Er konnte kaum etwas sehen; seine Augen waren zugeschwollen. Die Gestalt flüsterte etwas in sein Ohr, doch es war nicht die Stimme eines Engels. Max erkannte einen der Ärzte. den gleichen Mann, der zwei Tage lang in der Ecke gesessen und Max’ Eltern unablässig angefleht hatte, sie mögen ihm doch gestatten, ihrem Kind ein neues Medikament aus England zu verabreichen.
»Ich würde mir niemals verzeihen, wenn ich das hier nicht tun würde«, flüsterte er und nahm vorsichtig Max’ schwachen Arm. »Ich wünschte nur, ich hätte es schon viel früher getan.«
Max spürte einen winzigen Stich im Arm - bei all den anderen Schmerzen kaum wahrnehmbar.
Dann packte der Arzt leise seine Utensilien zusammen. Bevor er das Zimmer verließ, legte er Max die Hand auf die Stirn. »Das wird dir das Leben retten, Junge. Ich habe großes Vertrauen in die Errungenschaften der modernen Medizin.«
Binnen weniger Minuten fühlte sich Max, als würde ein Geist durch seine Adern fließen. Die Wärme breitete sich durch seinen Körper aus und vertrieb den Schmerz. Schließlich, zum ersten Mal seit Tagen, schlief Max Kohler ein.
Als er erwachte, hatte das Fieber bereits merklich nachgelassen. Seine Eltern hielten es für ein Wunder Gottes. Doch als sich herausstellte, dass ihr Kind verkrüppelt blieb, erfasste sie Verzweiflung. Sie brachten ihren Sohn in die Kirche und flehten den Priester um Rat an.
»Nur der Gnade Gottes ist es zu verdanken«, antwortete der Geistliche, »dass dieser Junge überhaupt noch am Leben ist.«
Max hörte es und schwieg.
»Aber unser Kind kann nicht mehr laufen!« Frau Kohler schluchzte.
Der Priester nickte traurig. »Ja. Wie es scheint, hat Gott ihn bestraft, weil er nicht genug Glauben besitzt.«
»Herr Kohler?« Der Gardist kehrte aus dem Amtszimmer zurück. »Der Camerlengo sagt, dass er bereit sei, Ihnen eine Audienz zu gewähren.«
Kohler brummte und setzte sich den Gang hinunter in Bewegung.
»Er ist überrascht, dass Sie ihn besuchen kommen!«, rief ihm der Gardist hinterher.
»Das glaube ich gern.« Kohler rollte weiter. »Ich möchte unter vier Augen mit ihm reden.«
»Unmöglich, Herr Generaldirektor!«, entgegnete der Gardist. »Niemand.«
»Leutnant!«, brüllte Rocher. »Das Treffen wird so stattfinden, wie Herr Kohler es wünscht.«
Der Gardist starrte seinen Vorgesetzten mit unverhüllter Fassungslosigkeit an.
Vor der Tür zum Amtszimmer des Papstes gestattete Rocher seinen Gardisten, die standardmäßige körperliche Durchsuchung vorzunehmen, bevor sie Kohler den Eintritt erlaubten. Der tragbare elektronische Detektor war jedoch angesichts der vielen elektronischen Apparaturen in Kohlers Rollstuhl so gut wie unbrauchbar. Die Wachen durchsuchten ihn von Hand, doch sie genierten sich offensichtlich wegen seiner Behinderung und machten ihre Sache nicht besonders gründlich. Sie fanden den Revolver nicht, der im Rollstuhl versteckt war, genauso wenig wie den anderen Gegenstand. das Objekt, von dem Kohler wusste, dass es die Kette von Ereignissen dieses Tages zu einem unvergesslichen Ende führen würde.
Als Kohler ins Amtszimmer des Papstes rollte, fand er
Camerlengo Carlo Ventresca alleine vor. Er kniete im Gebet versunken vor einem erlöschenden Kaminfeuer.
»Guten Abend, Generaldirektor Kohler«, begrüßte Ventresca seinen späten Gast, ohne die Augen zu öffnen. »Sind Sie gekommen, um mich zu einem Märtyrer zu machen?«
Kapitel 112.
Der Tunnel namens Il Passetto schien kein Ende zu nehmen. Langdon und Vittoria rannten in Richtung Vatikanstadt, und die Fackel in Roberts Hand warf gerade ausreichend Licht, um ein paar Meter weit zu sehen. Die Wände standen eng beisammen, und die Decke war niedrig. Die Luft roch abgestanden. Robert führte, und Vittoria hielt sich dicht auf seinen Fersen.
Der Tunnel führte aus der Engelsburg steil hinauf in den unteren Bereich einer Bastion; von dort aus ging es eben und schnurgerade durch ein Bauwerk, das aussah wie ein römisches Aquädukt, in Richtung Vatikanstadt.
Während Langdon rannte, ging ihm eine Vielzahl düsterer Bilder durch den Kopf. Kohler. Janus. der Assassine. Hauptmann Rocher. ein sechstes Brandzeichen? Ich bin ganz sicher, dass du es kennst, Amerikaner, hatte der Mörder gesagt. Es ist das brillanteste von allen. Langdon hatte nichts darüber gelesen, zumindest konnte er sich nicht erinnern. Nicht einmal bei den Konspirationstheoretikern gab es einen Hinweis auf ein sechstes Brandzeichen, und sei es nur gerüchteweise. Vermutungen über einen sagenhaften Goldschatz und einen makellosen Illuminati-Diamanten, das ja, aber nirgendwo auch nur ein Wort über ein sechstes Brandzeichen.
»Kohler kann unmöglich Janus sein!«, erklärte Vittoria kategorisch, während sie durchs Aquädukt rannten. »Das ist absurd!«
Unmöglich war ein Wort, das Langdon seit diesem Abend nicht mehr benutzte. »Ich weiß nicht«, rief er über die Schulter, ohne langsamer zu werden. »Kohler hegt einen tiefen Groll gegen die Kirche, und er besitzt gewaltigen Einfluss.«
»Diese Krise lässt CERN wie eine Horde Ungeheuer
dastehen! Max würde niemals etwas unternehmen, das dem Ruf von CERN schaden könnte!«
Tatsächlich hatte CERNs Ruf in dieser Nacht beträchtlichen Schaden genommen, und das nur, weil die Illuminati darauf bestanden hatten, ein Medienspektakel aus dieser Geschichte zu machen. Langdon fragte sich, wie groß der Schaden wirklich war. Kritik von Seiten der Kirche war für CERN schließlich nichts Neues. Je länger Langdon darüber nachdachte, desto mehr fragte er sich, ob diese Krise CERN nicht sogar Nutzen brachte. Wenn Publicity der Preis war, hatte Antimaterie heute Abend den Jackpot geknackt. Die Welt redete über nichts anderes.
»Sie wissen doch, was der Promoter P. T. Barnum einmal gesagt hat«, entgegnete Langdon über die Schulter. >»Es ist mir egal, was Sie über mich erzählen, aber sprechen Sie meinen Namen richtig aus!<Jede Wette, dass die großen Konzerne insgeheim schon Schlange stehen, um die Antimaterietechnologie zu lizenzieren. Und wenn sie um Mitternacht erst sehen, wie viel Energie in diesem neuen Stoff steckt.«
»Unlogisch«, widersprach Vittoria. »Wissenschaftliche Durchbrüche werden nicht dadurch publiziert, dass man ihre Zerstörungskraft demonstriert. Im Falle der Antimaterie ist das ein schwerer Schlag, glauben Sie mir.«
Langdons Fackel war fast heruntergebrannt. »Vielleicht ist ja alles viel einfacher, als wir bisher geglaubt haben. Vielleicht hat Kohler darauf spekuliert, dass der Vatikan die Antimaterie verschweigen würde - um den Illuminati nicht noch mehr Macht in die Hände zu spielen. Vielleicht nahm er an, dass der Vatikan wie üblich die Öffentlichkeit ausschließen würde, doch der Camerlengo hat die Regeln des Spiels geändert.«