Wahrheit entsprach.
Erde, Luft, Feuer, Wasser. Der Illuminati-Diamant.
Kapitel 117.
Langdon zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass die Hysterie und das Chaos auf dem Petersplatz alles überstiegen, was der Vatikanhügel jemals erlebt hatte. Keine Schlacht, keine Kreuzigung, keine Pilgerfahrt, keine mystische Vision - nichts in der zweitausendjährigen Geschichte des heiligen Ortes war mit dem Drama zu vergleichen, das sich in diesen Momenten abspielte.
Während die Tragödie ihren Lauf nahm, fühlte sich Langdon seltsam losgelöst, als schwebe er neben Vittoria oben über den Stufen zum Petersdom. Der Lauf der Zeit selbst schien sich zu verlangsamen, und der ganze Wahnsinn spielte sich in Zeitlupe ab.
Der gebrandmarkte Camerlengo in seinem Fieberwahn, für alle Welt zu sehen.
Der Illuminati-Diamant... in seiner ganzen diabolischen Genialität.
Der Countdown, der die letzten zwanzig Minuten in der vatikanischen Geschichte einläutete.
Doch das Drama hatte gerade erst begonnen.
Der Camerlengo schien mit einem Mal von neuer Kraft beseelt, besessen von Dämonen oder in einer Art
posttraumatischer Trance. Er begann za reden, zu unsichtbaren Geistern zu flüstern, während er zum Himmel schaute und die Arme zu Gott erhob.
»Sprich!«, rief er zum Himmel hinauf. »Ja! Ich höre dich!«
Plötzlich verstand Langdon. Es war ein weiterer, beinahe unerträglicher Schock.
Vittoria ging es allem Anschein nach nicht anders. Sie wurde kreidebleich. »Er hat einen Schock erlitten!«, sagte sie. »Er
halluziniert! Er glaubt, er redet mit Gott!«
Jemand muss ihn aufhalten, dachte Langdon. Es war ein unglückseliges, ja ein peinliches Ende. Dieser Mann muss so schnell wie möglich in ein Krankenhaus!
Am Fuß der Treppe stand noch immer Chinita Macri und filmte. Offensichtlich hatte sie ihren idealen Aussichtspunkt gefunden. Die Bilder, die ihre Kamera aufzeichnete, erschienen Sekundenbruchteile später auf den großen Videoschirmen sämtlicher Sender. wie auf den Leinwänden von Autokinos, die alle das gleiche grauenhafte Drama zeigten.
Es war eine epische Szenerie. Der Camerlengo in dem zerfetzten Priestergewand mit dem schwarzen Brandmal auf der Brust schien den Kreisen der Hölle für diesen einen Augenblick der Offenbarung entkommen zu sein. Er schrie hinauf zum Himmel.
»Ti sento, Dio! Ich höre dich, Gott!«
Chartrand wich mit einem ehrfürchtigen Ausdruck in den Augen vor ihm zurück.
Das Schweigen, das sich in diesem Moment auf dem Petersplatz ausbreitete, hätte tiefer nicht sein können. Für Sekunden sah es so aus, als wäre die ganze Welt verstummt. als säße jeder Mensch auf dem Planeten atemlos vor dem Fernseher.
Der Camerlengo stand auf den Stufen vor dem Petersdom, vor den Augen der Welt, und hielt die Arme ausgebreitet. Er sah fast aus wie eine Christuserscheinung, nackt und verwundbar und gedemütigt. Er blickte nach oben und rief: »Grazie! Grazie, Dio!«
Das Schweigen der Massen hielt an.
»Grazie, Dio!«, rief der Camerlengo erneut. Wie die Sonne durch einen stürmischen Himmel bricht, so breitete sich ein Ausdruck der Freude auf seinem Gesicht aus. »Grazie, Dio!«
Danke, Gott? Langdon starrte verwundert auf das Geschehen.
Der Camerlengo schien nun zu strahlen; seine unheimliche Verwandlung war abgeschlossen. Er sah noch immer zum Himmel hinauf, nickte noch immer eifrig und rief: »Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen!«
Langdon kannte die Worte, doch es blieb ihm völlig schleierhaft, warum der Camerlengo sie rief.
Der Camerlengo wandte sich zur Menge und wiederholte seine Worte. »Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen!« Dann hob er die Hände zum Himmel und lachte laut auf.» Grazie, Dio! Grazie!«
Der Camerlengo hatte den Verstand verloren.
Und die Welt schaute fassungslos zu.
Per Höhepunkt jedoch verlief so, wie es niemand erwartet hätte.
Mit einem letzten freudigen Ruf machte der Camerlengo auf dem Absatz kehrt und rannte in den Petersdom zurück.
Kapitel 118.
Dreiundzwanzig Uhr zweiundvierzig.
Langdon hätte sich niemals vorgestellt, dass er vor einer aufgescheuchten Traube von Menschen hinter dem Camerlengo her in den Dom rennen würde. Langdon hatte der Tür am nächsten gestanden und instinkthaft reagiert.
Er will da, drinnen sterben, dachte Langdon, während er über die Schwelle in das dunkle Innere der gigantischen Kirche stürmte. »Monsignore! Bleiben Sie stehen!«
Die Wand aus Schwärze war vollkommen. Langdons Pupillen waren verengt vom grellen Licht der Scheinwerfer draußen auf dem Platz; seine Sicht reichte kaum weiter als zwei, drei Meter. Vor ihm, irgendwo in der Dunkelheit, hörte er den Camerlengo. Das Gewand des Priesters raschelte, während er blindlings in die Nacht rannte.
Vittoria und die Schweizergardisten waren Langdon auf dem Fuß gefolgt. Taschenlampen und Handscheinwerfer blitzten auf, doch die Batterien waren ohne Ausnahme zu schwach
geworden, um die Tiefen der gigantischen Basilika zu
durchdringen. Die Lichtkegel schwenkten hin und her und enthüllten nur mächtige Pfeiler und nackten Boden. Der Camerlengo war nirgends zu sehen.
»Monsignore!«, rief Chartrand mit Furcht in der Stimme. »Warten Sie, Monsignore!«
Eine Bewegung in der Tür hinter ihnen veranlasste alle, sich umzudrehen. Chinita Macris Gestalt schob sich in die Basilika. Sie hatte die Kamera auf der Schulter, und das leuchtend rote Kontrolllicht verriet, dass sie noch immer filmte. Glick rannte
mit einem Mikrofon in der Hand hinter ihr her und rief ihr
unablässig zu, endlich langsamer zu werden.
Langdon traute seinen Augen nicht.
»Hinaus!«, rief Chartrand. »Das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt!«
Macri und Glick achteten gar nicht auf ihn.
»Chinita!« Günther Glicks Stimme klang nun ängstlich. »Das ist Selbstmord! Ich gehe nicht weiter!«
Sie ignorierte seine Warnung und legte einen Schalter auf ihrer Kamera um. Der Scheinwerfer auf dem Gerät flammte auf und blendete alle.
Langdon schirmte seine Augen ab und drehte sich aus dem Licht. Verdammt! Als er wieder hinschaute, war die Kirche in einem Umkreis von dreißig Metern erleuchtet.
In diesem Augenblick hallte die Stimme des Camerlengos aus der Dunkelheit vor ihnen. »Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen!«
Chinita Macri richtete die Kamera auf die Stelle, von der die Stimme gekommen war. Weit voraus, im Halbdunkel jenseits des Kamerascheinwerfers, wallte schwarzer Stoff und enthüllte eine vertraute Gestalt, die durch den Mittelgang der Basilika nach vorn rannte.
Einen flüchtigen Augenblick zögerten alle, während sie das bizarre Bild in sich aufnahmen. Dann brach der Damm. Chartrand schob sich an Langdon vorbei und sprintete hinter dem Camerlengo her. Langdon folgte ihm; dann die anderen Wachen und Vittoria.
Macri bildete den Schluss. Sie erhellte den anderen den Weg, während ihre Kamera die Jagd hinaus in die Welt übertrug. Günther Glick fluchte und trottete hinterdrein, während er einen verängstigten Kommentar ins Mikrofon murmelte.
Der Mittelgang des Petersdoms, so hatte Leutnant Chartrand irgendwann einmal herausgefunden, war länger als ein Fußballfeld. Heute Nacht jedoch wirkte er zwei Mal so lang.
Während der Offizier der Schweizergarde hinter dem Camerlengo herrannte, fragte er sich, was der Geistliche vorhatte. Er stand eindeutig unter Schock und war durch das physische Trauma und den Anblick des grauenhaften Massakers im päpstlichen Amtszimmer in eine Art Delirium gefallen.