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»Die Antimaterie ruht auf seinem Grab«, fuhr der Camerlengo fort. Seine Stimme klang kristallklar.

Trotz der scheinbar übernatürlichen Herkunft dieser Information spürte Langdon die nüchterne Logik darin. Die Antimaterie auf dem Grab des heiligen Petrus zu verstecken, war in diesem Licht betrachtet ein logischer Schachzug der Illuminati. In einem Akt symbolischen Trotzes hatten sie die Antimaterie ins Zentrum der Christenheit gebracht, buchstäblich wie metaphorisch. Die ultimative Infiltration.

»Wenn alles, was Sie brauchen, ein weltlicher Beweis ist«, fuhr der Camerlengo mit wachsender Ungeduld fort, »lassen Sie sich gesagt sein, dass ich dieses Gitter hier unverschlossen vorgefunden habe.« Er deutete auf den schweren runden Eisenrost. »Es ist niemals unverschlossen! Irgendjemand muss dort unten gewesen sein. in aller jüngster Zeit!«

Alle starrten in das Loch.

Einen Augenblick später wirbelte der Camerlengo mit unvermuteter Behändigkeit herum, packte eine Öllampe und stieg in die Dunkelheit hinunter.

Kapitel 119.

Die Steinstufen waren unglaublich steil.

Ich werde hier unten sterben, dachte Vittoria und klammerte sich an dem dicken Seil fest, das als Geländer diente, während sie hinter den anderen durch den engen Schacht nach unten stieg. Langdon hatte zwar trotz allem Anstalten gemacht, den Camerlengo von seinem Vorhaben abzuhalten, doch Chartrand war vorgetreten und hatte Langdon gestoppt. Offensichtlich war der junge Offizier der Schweizergarde überzeugt, dass der Camerlengo genau wusste, was er tat.

Nach einem kurzen Handgemenge hatte sich Langdon losgerissen und war dem Camerlengo mit Chartrand dicht auf den Fersen gefolgt. Vittoria war instinktiv hinter den beiden Männern hergerannt.

Jetzt kletterte sie Hals über Kopf eine atemberaubend steile Treppe hinunter, wo jeder falsche Schritt einen tödlichen Sturz nach sich ziehen konnte. Tief unter sich erkannte sie das goldene Leuchten der Öllampe in der Hand des Camerlengos. Hinter ihr eilten die beiden BBC-Reporter die Stufen hinab. Das Scheinwerferlicht der Kamera warf lange unstete Schatten an die Wände und beleuchtete Chartrand und Langdon. Es war kaum zu glauben, dass dieser Wahnsinn live übertragen wurde. Stellt die verdammte Kamera ab! Andererseits war das Licht des Scheinwerfers die einzige Möglichkeit, überhaupt zu sehen, wohin sie gingen.

Die bizarre Jagd dauerte an, und Vittorias Gedanken peitschten hin und her wie in einem Sturm. Was konnte der Camerlengo dort unten schon ausrichten? Selbst wenn er die Antimaterie fand - es war zu spät. Die Zeit war ihnen davongelaufen.

Zu ihrer Überraschung sagte ihre Intuition, dass der Camerlengo wahrscheinlich Recht hatte. Indem die Antimaterie drei Stockwerke tief unter der Erde versteckt war, hatten die Illuminati eine beinahe menschliche Wahl getroffen. So tief unter der Erde - fast so tief wie im Z-Labor - würde eine Annihilation nur einen Bruchteil der Schäden anrichten. Keine Schockwelle aus Hitze, keine umherfliegenden Trümmer, die unschuldige Zuschauer trafen, nichts weiter als ein biblisches Loch, das sich in der Erde auftat und die Basilika in einem großen Krater verschlang.

War das Kohlers letzte anständige Tat gewesen? Leben zu schonen? Vittoria konnte sich noch immer nicht recht vorstellen, dass der tote Generaldirektor in die Verschwörung der Illuminati verwickelt gewesen sein sollte. Sie verstand seinen Hass auf die Religion. doch diese unglaubliche Konspiration schien gar nicht zu ihm zu passen. War Kohlers Hass tatsächlich so tief gewesen, dass er die Zerstörung des Vatikans geplant hatte? Einen Assassinen beauftragt hatte? Ihren Vater, den Papst und vier Kardinale hatte ermorden lassen? Es schien undenkbar. Und wie hatte Kohler den Verrat in den Mauern des Vatikans begehen können? Rocher war Kohlers Mann im Vatikan, sagte sich Vittoria. Rocher war ein Illuminatus. Ohne Zweifel hatte Rocher Schlüssel für jeden Raum besessen - das päpstliche Schlafzimmer, Il Passetto, die Nekropole, das Grab des heiligen Petrus. Er hatte die Antimaterie auf das Grab des heiligen Petrus gestellt - einen Ort, den kaum jemals ein Mensch zu Gesicht bekam. Anschließend hatte er seine Leute dadurch abgelenkt, dass er sie lediglich in den öffentlich zugänglichen Bereichen hatte suchen lassen. Rocher hatte gewusst, dass niemand den Behälter finden würde.

Aber Rocher hat nicht damit gerechnet, dass der Camerlengo eine Botschaft von Gott erhält.

Die Botschaft. Das war der große Sprung in der Logik, das Wunder, das zu glauben Vittorias Verstand sich immer noch weigerte. Hatte Gott tatsächlich mit dem Camerlengo gesprochen? Vittorias Instinkte sagten Nein, obwohl ihr Fachgebiet die Physik der Abhängigkeiten war. Das Studium der Verkettungen. Sie beobachtete jeden Tag Formen von Kommunikation, die an das Wunderbare grenzten -Zwillingseier von Seeschildkröten, die getrennt und in Labors ausgebrütet wurden, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt lagen und trotzdem in genau der gleichen Sekunde schlüpften. Quadratkilometer voller Quallen, die wie eine einzige in perfektem Rhythmus pulsierten. Es gibt unsichtbare Formen von Kommunikation, überall um uns herum, dachte sie.

Doch zwischen Gott und den Menschen?

Vittoria sehnte sich nach ihrem Vater. Er hätte sie in ihrem Glauben stärken können. Einmal hatte er ihr in wissenschaftlichen Begriffen erklärt, wie man sich göttliche Kommunikation vorzustellen hatte - und sie hatte ihm geglaubt. Sie erinnerte sich noch immer an den Tag, als sie ihn beim Beten gesehen und gefragt hatte: »Vater, warum machst du dir die Mühe zu beten? Gott kann dir nicht antworten.«

Leonardo Vetra hatte mit väterlichem Lächeln zu ihr aufgeblickt. »Meine Tochter, die Skeptikerin. Also glaubst du nicht, dass Gott zu den Menschen spricht? Lass es mich mit deinen Worten erklären.« Er hatte das Modell eines menschlichen Gehirns aus dem Regal genommen und es vor Vittoria hingestellt. »Wie du wahrscheinlich sehr gut weißt, benutzen menschliche Wesen nur einen sehr kleinen Teil ihres Verstandes. Wenn man sie jedoch in emotional angespannte Situationen versetzt - beispielsweise ein Verletzungstrauma, extreme Angst oder Freude oder tiefe Meditation - fangen die Neuronen unvermittelt an, wie verrückt zu feuern, was in einer massiven Erweiterung des Bewusstseins resultiert.«

»Na und?«, hatte Vittoria geantwortet. »Nur weil man klarer denkt, heißt das noch lange nicht, dass man mit Gott spricht!«

»Aha!«, hatte Leonardo Vetra ausgerufen. »Und doch fallen dem Menschen nicht selten in genau diesen Momenten bemerkenswerte Lösungen zu scheinbar unmöglichen Problemen ein. Das ist es, was Gurus>höhere Bewusstseinsebenecnennen. Biologen sagen angeregter Zustand<dazu. Psychologen nennen es das>Über-Ich<. Und Christen nennen es.« Er zögerte. »Sie nennen es ein erhörtes Gebet.« Mit breitem Lächeln fügte er hinzu: »Manchmal ist göttliche Erleuchtung nichts weiter als ein Justieren des Verstandes auf etwas, das das Herz längst weiß.«

Jetzt, als sie die steile Treppe hinunter ins Ungewisse hinabstieg, spürte Vittoria, dass ihr Vater vielleicht Recht gehabt hatte. War es so schwer zu glauben, dass das Trauma des Camerlengos sein Bewusstsein in einen Zustand versetzt hatte, in dem er das Versteck der Antimaterie einfach »erkannt« hatte?

Jeder von uns ist ein Gott, hatte Buddha gesagt. Jeder von uns ist allwissend. Wir müssen lediglich unser Bewusstsein öffnen, um unserer eigenen Weisheit zu lauschen.

In jenem Augenblick der Klarheit, während sie tiefer und tiefer in die Erde hinunterstieg, spürte Vittoria, wie sich ihr eigenes Bewusstsein weitete. wie ihre eigene Weisheit ans Licht kam. Sie wusste nun, welche Absicht der Camerlengo hegte. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Und mit dieser Erkenntnis stieg eine Angst in ihr auf, die größer war als alles, was sie bisher erfahren hatte.