Kapitel 121.
Der Camerlengo fühlte sich schwach.
Er rannte weiter, und seine Beine fanden Kraft im Glauben an Gott und seiner Pflicht gegenüber den Menschen. Ich bin fast da. Er litt unter unsäglichen Schmerzen. Der Verstand kann viel mehr Schmerz verursachen als der Leib. Er war müde. Und er wusste, dass ihm nur noch sehr wenig Zeit blieb.
»Ich werde deine Kirche retten, Vater. Ich schwöre es!«
Trotz der Scheinwerferlichter hinter sich - für die er dankbar war - trug der Camerlengo seine Öllampe hoch erhoben. Ich bin das Licht in der Dunkelheit. Ich bin das Licht. Das Öl in der Lampe schwappte beim Laufen, und für einen Augenblick fürchtete er, die Flüssigkeit könnte überlaufen und ihn verbrennen. Er hatte genügend verbranntes Fleisch für eine Nacht ertragen.
Als er sich dem höchsten Punkt des Hügels näherte, war er schweißgebadet und völlig außer Atem. Doch als er den Kamm erreicht hatte, fühlte er sich wie neugeboren. Er stolperte zu dem flachen Stück Erde, wo er schon so viele Male gestanden hatte. Hier endete der Weg. Die Nekropole endete ebenfalls vor einer steilen Wand. Ein winziges Schild verkündete: Mausoleum S.
La tomba di San Pietro.
Vor ihm, auf Leibeshöhe, befand sich eine schmucklose Öffnung in der Wand. Keine vergoldete Plakette. Keine Ornamente. Nur ein einfaches Loch in der Wand, hinter dem eine kleine Höhle lag und ein schlichter, verfallender Sarkophag. Der Camerlengo starrte in das Loch und lächelte erschöpft. Er konnte die anderen hören, die hinter ihm den Hügel hinaufhetzten. Er stellte seine Öllampe ab und kniete nieder zum Gebet.
Ich danke dir, Gott. Es ist fast vorbei.
Draußen auf dem Platz, umgeben von sprachlosen Kardinalen, starrte Kardinal Mortati hinauf auf die große Videowand und beobachtete das Drama, das sich in der Krypta unter dem Dom abspielte. Er wusste nicht mehr, was er glauben sollte und was nicht. Hatte die ganze Welt beobachtet, was er gerade gesehen hatte? Hatte Gott wirklich und wahrhaftig zum Camerlengo gesprochen? War die Antimaterie tatsächlich im Grab des heiligen Petrus.?
»Sehen Sie!« Ein Ächzen lief durch die Menge.
»Dort!« Alles zeigte hinauf zu den Schirmen. »Ein Wunder! Es ist ein Wunder!«
Mortati blickte auf. Die Kamera schwankte unsicher, doch das Bild war deutlich genug. Es war ein unvergessliches Bild.
Der Camerlengo kniete im Gebet auf dem nackten Erdboden. Die Kamera filmte ihn von hinten. Vor dem Camerlengo war ein in die Wand gehauenes Loch. Dahinter, in einem Trümmerhaufen aus alten, zerfallenen Steinen, stand ein Terrakottagefäß. Obwohl Kardinal Mortati das Gefäß nur ein einziges Mal im Leben gesehen hatte, wusste er genau, was es enthielt.
San Pietro.
Mortati war nicht so naiv zu glauben, dass die Freudenrufe und das aufgeregte Geschrei, das sich nun in der Menge erhob, ein Ausdruck der Begeisterung ob der Tatsache war, das heiligste Relikt der Christenheit mit eigenen Augen zu sehen. Es war nicht das Grab des heiligen Petrus, das die Menschen dazu veranlasste, auf die Knie zu sinken und Dankesgebete zu sprechen. Es war das Objekt, das oben auf dem Grab stand.
Der Antimateriebehälter. Dort stand er. hatte er den ganzen Tag gestanden. versteckt in der Dunkelheit der Nekropole. Glatt. Hart. Tödlich. Die Offenbarung des Camerlengos war also zutreffend.
Voller Staunen starrte der alte Kardinal auf den transparenten Zylinder. Die kleine Kugel aus einer metallisch glitzernden Flüssigkeit schwebte noch immer scheinbar schwerelos in seinem Innern. Die Höhle rings um den Behälter blinkte rot, während das LED-Display unbeirrt die letzten fünf Minuten seiner Existenz herunterzählte.
Ebenfalls auf dem Grab, nur wenige Zentimeter von dem Behälter entfernt, ruhte die drahtlose Sicherheitskamera der Schweizergarde, die ununterbrochen das Signal in die Kaserne übertragen hatte.
Mortati bekreuzigte sich. Es war das Furcht erregendste Bild, das er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Einen Augenblick später wurde ihm bewusst, dass es noch schlimmer kommen würde.
Unvermittelt erhob sich der Camerlengo. Er packte den Antimaterie-Behälter mit beiden Händen und wirbelte zu den anderen herum. Auf seinem Gesicht stand höchste Konzentration. Er schob sich an den anderen vorbei und rannte auf dem gleichen Weg zurück, den er gekommen war, hinunter in die Nekropole und in Richtung des Ausgangs.
Die Kamera erfasste Vittoria Vetra, die vor Entsetzen wie erstarrt schien. »Was haben Sie vor? Wohin wollen Sie damit? Monsignore! Ich dachte, Sie hätten gesagt.«
»Haben Sie Vertrauen!«, rief er über die Schulter, ohne langsamer zu werden.
Vittoria sah Langdon an. »Was machen wir jetzt?«
Robert Langdon versuchte, den Camerlengo aufzuhalten, doch einmal mehr kam ihm Chartrand in die Quere. Offensichtlich vertraute er dem Camerlengo blind.
Das Bild, das die BBC-Kamera von Chinita Macri in die Welt übertrug, begann erneut zu schwanken. Flüchtige Eindrücke von Verwirrung und Chaos flackerten über die Videoschirme, während die Prozession durch die Schatten zurück zum Eingang der Nekropole stolperte.
Auf dem Petersplatz stieß Kardinal Mortati einen angstvollen Ruf aus. »Bringt er den Behälter etwa nach hier oben?«
Auf den Fernsehschirmen der ganzen Welt rannte der Camerlengo überlebensgroß aus der Nekropole und die steile Treppe hinauf. »Es wird keine weiteren Toten in dieser Nacht geben!«
Doch er sollte sich irren.
Der Camerlengo stürzte um genau dreiundzwanzig Uhr sechsundfünfzig durch die große Tür der Peterskirche hinaus auf den Platz. Er stolperte ins grelle Licht der Scheinwerfer. Den Behälter mit der Antimaterie trug er wie eine spirituelle Opfergabe vor sich her. Seine Augen brannten; trotzdem erkannte er durch die Grelle hindurch seine eigene Gestalt auf den Videoschirmen, halb nackt und verwundet und hoch aufragend wie ein Riese. Der Lärm, der nun über den Menschenmassen auf dem Petersplatz aufstieg, war mit nichts zu vergleichen, das der Camerlengo je gehört hatte. Weinen, Schreien, Singen, Beten. eine Mischung aus Verehrung und Todesangst.
Erlöse uns von dem Bösen, flüsterte er.
Die Flucht aus der Nekropole hatte ihn seine letzten Kräfte gekostet. Beinahe wäre es zur Katastrophe gekommen. Robert Langdon und Vittoria Vetra hatten ihn aufhalten und dazu bewegen wollen, den Behälter zurück in sein unterirdisches Versteck zu stellen und mit ihnen nach draußen zu fliehen, um Deckung zu suchen. Blinde Toren!
Der Camerlengo erkannte nun mit furchtbarer Klarheit, dass er diesen Wettlauf in keiner anderen Nacht gewonnen hätte. Doch in dieser Nacht war Gott erneut bei ihm gewesen. Robert Langdon hatte ihn schon fast eingeholt, als Chartrand dazwischengegangen war, die treue Seele, die ihm in den vergangenen Stunden so gute Dienste geleistet hatte. Die beiden BBC-Reporter waren zu schwer beladen und zu fasziniert von dem Geschehen, um einzuschreiten.
Die Wege des Herrn sind unergründlich.
Hinter sich hörte er die anderen. er sah sie auf den
Schirmen, sah, wie sie näher kamen. Er nahm seine letzten Kräfte zusammen und hob den Behälter hoch über den Kopf. Dann streckte er in einem Akt des Trotzes gegenüber den Illuminati die Brust mit dem Brandzeichen heraus, nahm die nackten Schultern zurück und rannte die Treppe hinunter. Ein Letztes blieb noch zu tun.
Vier Minuten...
Langdon war geblendet, als er aus der Basilika kam. Einmal mehr brannten sich die Scheinwerfer in seine Netzhäute. Vor sich erkannte er undeutlich die Silhouette des Camerlengos, der in diesem Augenblick die Treppe hinunterrannte. Für einen Augenblick sah der Camerlengo im Halo der Scheinwerfer wie ein Himmelswesen aus, wie eine moderne Gottheit. Das Priestergewand hing über seine Hüften wie ein Schleier. Sein Oberkörper war verstümmelt und gebrandmarkt von der Hand seiner Feinde, und doch hielt er noch immer durch, eilte weiter, hoch aufgerichtet, und rief der Welt zu, an Gott zu glauben, während er mit seiner alles vernichtenden Last auf die Menschenmengen zurannte.