Der Camerlengo antwortete nicht. Er schien alle Konzentration auf die Steuerung des Hubschraubers zu verwenden.
»Uns bleiben nur noch weniger als zwei Minuten!«, rief Langdon und hob den Behälter in die Höhe, damit der Camerlengo es selbst sehen konnte. »Nur ein paar Kilometer nach Norden, Vater! La Cava Romana! Ich kann sie sehen. Wir haben nicht.«
»Nein«, entgegnete der Camerlengo. »Es wäre viel zu gefährlich. Es tut mir Leid, mein Sohn.« Während der
Hubschrauber weiter in den Himmel stieg, wandte sich der Camerlengo um und lächelte Langdon traurig an. »Ich wünschte, Sie wären nicht mitgekommen, mein Freund. Sie haben das größte aller Opfer gebracht.«
Langdon starrte in die erschöpften Augen des Camerlengos, und plötzlich verstand er. Das Blut gefror in seinen Adern. »Aber. es muss doch einen Ausweg geben!«
»Nach oben«, antwortete der Camerlengo mit resignierter Stimme. »Es ist der einzig sichere Weg.«
Langdon war kaum noch imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte den Plan des Camerlengos völlig falsch interpretiert. Schaut hinauf zum Himmel!
Der Himmel, erkannte Langdon nun in aller Klarheit, war von Anfang an das Ziel des Camerlengos gewesen. Er hatte nie beabsichtigt, den Behälter abzuwerfen. Er entfernte ihn einfach nur so weit von der Vatikanstadt, wie es menschenmöglich war.
Langdon befand sich auf einer Reise ohne Wiederkehr.
Kapitel 123.
Vittoria stand auf dem Petersplatz und starrte nach oben. Der Helikopter war nur noch ein winziger Fleck am Himmel; nicht einmal mehr die Scheinwerfer der Übertragungswagen reichten so weit hinauf. Selbst das Schlagen der Rotoren war zu einem fernen Brummen verhallt. Es schien, als würde in diesem Augenblick die ganze Welt nach oben schauen, voll schweigender Erwartung, den Kopf in den Nacken gelegt. alle Menschen, alle Religionen. alle Herzen schlugen wie eines.
Vittorias Inneres war in wildem Aufruhr. Während der Helikopter außer Sicht verschwand, stellte sie sich Robert vor, wie er sich im Hubschrauber von ihr entfernte. Was hat er
gedacht? Hat er es denn nicht gespürt?
Rings um den Platz suchten Kameras die Dunkelheit ab. Warteten. Ein Meer aus Gesichtern starrte himmelwärts, vereint in einem schweigenden Countdown. Auf sämtlichen Videoschirmen war die gleiche lautlose Szene zu sehen. der römische Nachthimmel, erleuchtet von hellen Sternen. Vittoria weinte stumm.
Hinter ihr standen hunderteinundsechzig Kardinale auf der Marmortreppe und sahen nach oben. Einige hatten die Hände zum Gebet gefaltet. Die meisten rührten sich nicht. Viele weinten. Die Sekunden vergingen.
In Wohnungen, Cafes, Geschäften, Krankenhäusern, auf Flughäfen überall auf der Welt sahen die Menschen die Bilder vom Vatikan. Männer und Frauen reichten sich die Hände. Andere hielten ihre Kinder. Die Zeit schien stillzustehen, während alle Seelen vereint waren.
Dann begannen die Glocken des Petersdoms zu läuten.
Vittoria ließ ihren Tränen freien Lauf.
Und während die ganze Welt hinsah, lief die Zeit ab.
Die tödliche Stille des Ereignisses war das Schrecklichste.
Hoch über der Vatikanstadt schwebte ein stecknadelkopfgroßer Lichtpunkt. Für einen winzigen Augenblick sah es aus, als wäre ein neuer Himmelskörper entstanden. ein Lichtpunkt, so rein und weiß, wie ihn noch nie ein Mensch gesehen hatte.
Dann geschah es.
Ein Blitz.
Der Lichtpunkt dehnte sich aus und raste in alle Richtungen über den Himmel, beschleunigte mit unfassbarer Geschwindigkeit und vertrieb die Nacht über Rom. Je mehr sich das Licht ausdehnte, desto intensiver strahlte es, wie das erwachende Böse selbst, bereit, den Himmel zu verschlingen.
Es raste den Menschen unten entgegen, während es schneller und schneller wurde.
Geblendet starrten die zahllosen Gesichter in den Himmel, ächzten auf wie ein Mann, schirmten die Augen ab und schrien ihre erstickte Angst hinaus.
Dann geschah das Unvorstellbare. Noch während das Licht sich in alle Richtungen ausdehnte, schien es auf eine unsichtbare Wand zu prallen, als wäre es von Gott selbst aufgehalten worden. Es sah aus, als wäre die Explosion in einer gigantischen, unsichtbaren Glaskugel gefangen. Das Licht verharrte, stürzte zurück nach innen und leuchtete noch intensiver. Die Welle schien einen vorbestimmten Umfang zu erreichen und verharrte dort. Für einen Sekundenbruchteil schwebte eine perfekte, lautlose Kugel aus Licht über Rom. Die Nacht war zum Tag geworden.
Dann kam die Druckwelle.
Der Donner klang tief und hohl - eine gewaltige Schockwelle aus dem Himmel. Sie brandete auf die Menschen herab wie der
Racheengel aus der Hölle und ließ das granitene Fundament der Vatikanstadt erzittern. Sie trieb den Menschen die Luft aus den Lungen und schleuderte sie zu Boden. Dann kam ein plötzlicher Sturm warmer Luft. Er fegte über den Platz, rauschte zwischen den Säulen hindurch und brandete gegen die Mauern. Staub wirbelte auf, und die Menschen duckten sich tief an den Boden. Zeugen des letzten Kampfes zwischen Gut und Böse, von Armageddon.
Und dann implodierte die Kugel, so schnell, wie sie entstanden war. Sie fiel in sich zusammen, bis nur noch der winzige Lichtpunkt übrig blieb, und einen Sekundenbruchteil später war auch davon nichts mehr zu sehen.
Kapitel 124.
Die Menschen auf dem Petersplatz senkten einer nach dem anderen den Blick vom nun wieder schwarzen Himmel und schauten nach unten, stumm vor Staunen. Die Scheinwerfer folgten gleich darauf, wie aus Ehrfurcht vor der sich ausbreitenden Schwärze. Für einen Moment schien es, als beugte die ganze Welt einhellig den Kopf.
Kardinal Mortati kniete sich zum Beten hin, und die anderen Kardinale folgten seinem Beispiel. Die Schweizergardisten senkten ihre Hellebarden und standen da wie betäubt. Niemand sprach ein Wort. Niemand rührte sich. Überall zuckten Schultern in spontanen Gefühlsausbrüchen. Trauer. Furcht. Staunen. Glauben. Und ehrfürchtiger Respekt vor der furchtbaren und neuen Macht, die sie soeben mit eigenen Augen gesehen hatten.
Vittoria Vetra stand zitternd am Fuß der breiten Treppe, die hinauf zum Petersdom führte. Sie schloss die Augen. Durch den Sturm von Gefühlen hindurch erklang ein einzelnes Wort, wie eine ferne Glocke. Klar. Grausam. Sie verdrängte es. Es kehrte zurück wie ein Echo. Sie verdrängte es entschiedener. Der Schmerz war zu groß. Sie versuchte sich mit den Bildern abzulenken, Bildern von der unglaublichen Macht, die sich in der Antimaterie versteckte. von der Rettung des Vatikans. vom Camerlengo. seiner tapferen Tat. von göttlichen Wundern. und von Selbstlosigkeit. Und doch hallte das Wort weiter durch ihren Verstand, durchdrang das umgebende Chaos und versenkte sie in ein Gefühl unendlicher Einsamkeit.
Robert.
Er war zum Castel Sant’ Angelo gekommen, um sie zu retten.
Er hatte sie gerettet.
Und nun hatte ihre Schöpfung ihn das Leben gekostet.
Während Kardinal Mortati betete, fragte er sich, ob auch er Gottes Stimme hören würde, wie der Camerlengo vor ihm. MUSS ein Mensch an Wunderglauben, um sie sehen zu können? Mortati war ein moderner Mensch mit einem alten Glauben. Wunder hatten in seinem Glauben nie eine Rolle gespielt. Natürlich erzählte sein Glaube von Wundern. blutenden Wundmalen, Wiederauferstehung von den Toten, Abdrücken auf Leichentüchern. und doch hatte Mortatis rationaler Verstand diese Berichte stets als Teil des Mythos abgetan. Sie waren Resultat der größten Schwäche, die Menschen besaßen -dem Bedürfnis, für alles Beweise zu sehen. Wunder waren nichts weiter als Geschichten, an die sich alle Menschen klammerten, weil sie sich wünschten, sie mögen wahr sein.