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Und doch.

Bin ich denn so modern, dass ich nicht akzeptieren kann, was ich soeben mit eigenen Augen gesehen habe? Es war doch ein Wunder, oder nicht? Ja! Gott hatte eingegriffen, mit ein paar Worten ins Ohr des Camerlengos, und Gott selbst hatte die Kirche vor dem Untergang bewahrt. Warum war das so schwer zu glauben? Was hätte es über Gott ausgesagt, wenn Er tatenlos zugeschaut hätte? Dass dem Allmächtigen die Menschen gleichgültig waren? Dass Er nicht die Macht besaß, dieses Verbrechen aufzuhalten? Ein Wunder ist die einzig mögliche Antwort!

Während Mortati kniete und überlegte, betete er für die Seele des Camerlengos. Er dankte dem jungen Geistlichen, der trotz seiner Jugend Mortatis alte Augen geöffnet hatte für die Wunder, die nur unerschütterlicher Glaube zu sehen vermochte.

Doch Mortati hätte niemals erwartet, dass sein neu gewonnener Glaube schon wenige Sekunden später so hart geprüft werden würde.

Die Stille auf dem Petersplatz wich einem leisen Raunen. Das

Raunen breitete sich rasch aus, wurde zu einem Murmeln, und dann, mit einem Mal, zu einem kollektiven Aufschrei. Ohne jede Vorwarnung schrien alle Menschen laut durcheinander.

»Seht! Seht nur!«

Mortati öffnete die Augen und wandte sich zu den Menschen um. Jeder deutete auf eine Stelle hinter ihm, auf den Eingang zur Basilika. Ihre Gesichter waren weiß. Einige fielen auf die Knie. Andere wurden ohnmächtig. Wieder andere schluchzten unkontrolliert.

»Seht nur! Seht nur!«

Mortati drehte sich verwirrt um und folgte den ausgestreckten Händen. Sie deuteten nach oben, zum Dach der Fassade, der großen Terrasse, wo gewaltige Statuen von Christus und den Aposteln über die Menge wachten.

Und dort, zur Rechten Jesu Christi, mit weit zur Welt hin ausgebreiteten Armen, stand Camerlengo Carlo Ventresca.

Kapitel 125.

Robert Langdon fiel nicht mehr.

Er spürte kein Entsetzen mehr, keine Angst. Keinen Schmerz. Nicht einmal mehr das laute Rauschen des Windes. Nichts außer dem leisen Plätschern von Wasser, als schliefe er in einer warmen Nacht an einem Strand.

Robert Langdon spürte mit Gewissheit, dass er tot war. Er war froh darüber. Er ließ sich von der trägen Taubheit erfassen, ließ sie von ihm Besitz ergreifen, ließ sich von ihr tragen. Sein Schmerz und seine Angst waren betäubt, und er wollte um keinen Preis, dass sie zurückkehrten. Seine letzte bewusste Erinnerung konnte nur direkt aus der Hölle gekommen sein.

Nimm mich zu dir...

Doch das Plätschern, das ihn die ganze Zeit eingelullt und ihm ein entferntes Gefühl von Frieden vermittelt hatte, zerrte gleichzeitig an ihm. Es zerrte ihn zurück, versuchte, ihn aus einem Traum zu wecken. Robert wollte nicht aufwachen. Er spürte, wie sich Dämonen am Rand seines Zufluchtsortes sammelten, um seine Glückseligkeit zu zerstören. Verschwommene Bilder wirbelten durch seinen Kopf. Stimmen riefen. Wind pfiff. Nein, bitte nicht! Je mehr er kämpfte, umso heftiger drang die Wut zu ihm durch.

Und dann durchlebte er alles noch einmal, jedes einzelne Detail.

Der Helikopter stieg mit Schwindel erregendem Tempo höher. Robert war darin gefangen. Jenseits der offenen Luke, tief unter ihm, schimmerten die Lichter Roms und entfernten sich mit jeder Sekunde weiter. Sein Selbsterhaltungstrieb sagte ihm, dass er den Kanister jetzt über Bord werfen sollte. Langdon wusste, dass er in zwanzig Sekunden fast einen Kilometer tief

fallen würde. Doch er wusste auch, dass unten eine Stadt voller Menschen war.

Höher! Höher!

Er fragte sich, wie hoch sie inzwischen waren. Kleine Propellerflugzeuge, so wusste er, flogen in einer Höhe von sechs oder sieben Kilometern. Wie hoch war der Helikopter inzwischen? Drei Kilometer? Vier? Noch gab es eine Chance. Wenn sie den Behälter im letzten Augenblick abwarfen, würde er nur einen Teil des Weges nach unten zurücklegen, bevor er in sicherer Entfernung vom Boden und dem Helikopter

explodierte.

»Und wenn Sie sich verrechnen?«, entgegnete der Camerlengo.

Langdon wandte sich verblüfft zu dem Geistlichen um. Der Camerlengo hatte nicht einmal den Kopf gewandt; offensichtlich hatte er Langdons Gedanken aus seinem geisterhaften

Spiegelbild in der großen Windschutzscheibe gelesen. Merkwürdigerweise war er nicht mehr mit den Kontrollen der Maschine beschäftigt. Er berührte sie nicht einmal. Der Hubschrauber flog, wie es schien, mit dem Autopiloten,

während er unablässig weiter stieg. Der Camerlengo griff an die Decke der Kanzel und zog hinter einem Kabelkanal einen Schlüssel hervor, der dort mit einem Streifen Klebeband versteckt befestigt war.

Langdon beobachtete mit zunehmender Verwirrung, wie der Camerlengo rasch die große metallene Bordkiste aufschloss, die sich zwischen den Sitzen befand. Er klappte den Deckel auf und entnahm etwas, das wie ein großer, schwarzer Nylonrucksack aussah. Er legte ihn neben sich auf den freien Sitz. Langdons Gedanken wirbelten. Die Bewegungen des Camerlengos

schienen zielgerichtet, als hätte er eine Lösung gefunden.

»Geben Sie mir den Behälter«, sagte der Camerlengo mit ernster Stimme.

Langdon wusste nicht, was er von alledem halten sollte. Er schob dem Camerlengo den Behälter hin. »Uns bleiben nur noch neunzig Sekunden, Vater!«

Was als Nächstes geschah, traf Langdon völlig unvorbereitet. Der Camerlengo hielt den Antimaterie-Behälter vorsichtig in den Händen und legte ihn in die Bordkiste. Dann schloss er den Deckel und sperrte das Schloss ab.

»Was tun Sie da?«, fragte Langdon.

»Ich erlöse uns von der Versuchung.« Der Camerlengo warf den Schlüssel aus dem offenen Fenster.

Der Schlüssel taumelte in die Nacht, und Langdon hatte das Gefühl, als taumelte seine Seele mit ihm.

Dann nahm der Camerlengo den Nylonrucksack und schob die Arme durch die Tragschlaufen. Er befestigte eine weitere Schlaufe vor dem Leib und zog eine vierte durch den Schritt hindurch nach vorn, um sie ebenfalls einzuhaken. Dann wandte er sich zu einem fassungslos dasitzenden Robert Langdon um.

»Es tut mir Leid«, sagte der Camerlengo. »Es war alles ganz anders geplant.« Mit diesen Worten sprang er aus der Kanzel und verschwand in der Nacht.

Das Bild haftete in Robert Langdons Unterbewusstsein, und mit ihm kam der Schmerz. Physischer Schmerz. Brennend. Verzehrend. Er flehte darum, dass es zu Ende gehen möge, doch als das Wasser lauter in seinen Ohren plätscherte, kamen neue Bilder. Seine Hölle hatte gerade erst begonnen. Er sah die einzelnen Szenen wie Puzzlesteine. Aus dem Zusammenhang gerissene schiere Panik. Er lag halb zwischen Tod und Albtraum gefangen und flehte um Erlösung, doch die Bilder wurden zunehmend heller.

Der Antimaterie-Behälter war außerhalb seiner Reichweite, eingeschlossen in die metallene Bordkiste. Der Countdown lief unerbittlich weiter, während der Helikopter hinauf in den Himmel stieg. Fünfzig Sekunden. Höher. Höher. Langdon wirbelte in der Kabine umher, versuchte einen Sinn in dem zu erkennen, was ihm widerfahren war. Fünfundvierzig Sekunden. Er duckte sich und suchte unter den Sitzen nach einem zweiten Fallschirm. Vierzig Sekunden. Es gab keinen! Es musste doch einen Ausweg geben! Fünfunddreißig Sekunden. Er sprang zur offenen Luke, stand im brausenden Wind und starrte hinunter auf die Lichter Roms. Zweiunddreißig Sekunden.

Und dann traf er eine Entscheidung.

Eine unglaubliche Entscheidung.

Robert Langdon war ohne Fallschirm aus dem Hubschrauber gesprungen. Während die Nacht seinen fallenden Körper verschlang, schien der Helikopter hinauf in den Himmel zu jagen wie eine Rakete. Das Geräusch der Rotoren wurde übertönt vom brausenden Wind des freien Falls.

Langdon stürzte der Erde entgegen und spürte etwas, das er seit den Tagen seiner Laufbahn als Turmspringer nicht mehr gekannt hatte - die unbarmherzige Kraft der Gravitation während des freien Falls. Je schneller er fiel, desto stärker schien die Erde ihn anzuziehen, ihn zu sich herabzusaugen. Diesmal jedoch waren es nicht nur zehn Meter bis in ein Sprungbecken. Diesmal waren es Tausende von Metern hinunter in eine Stadt eine endlose Fläche aus Beton und Steinen.