»Meine Freunde«, begann Mortati, während er zum Altar ging. Seine Stimme klang, als gehöre sie nicht zu ihm. »Ich glaube, dass ich für den Rest meiner Tage über die Bedeutung dessen nachgrübeln werde, was wir alle heute Nacht gesehen haben. Und doch ist das, was Sie den Camerlengo betreffend vorschlagen. es kann unmöglich Gottes Wille sein!«
Mit einem Mal kehrte Stille ein.
»Wie. wie können Sie das sagen?«, fragte schließlich einer der Kardinale. »Der Camerlengo hat die Kirche gerettet! Der Mann hat den Tod überlebt! Welches Zeichen brauchen wir denn noch?«
»Der Camerlengo kommt nun zu uns«, antwortete Mortati. »Lasst uns warten. Wir wollen ihn anhören, bevor wir zur nächsten Wahl schreiten. Vielleicht gibt es eine Erklärung für all das.«
»Eine Erklärung?«
»Als Zeremonienmeister dieses Konklaves habe ich geschworen, die Gesetze für die Wahl zu beachten. Sie wissen, dass der Camerlengo nach dem heiligen Gesetz nicht zum Papst gewählt werden kann. Er ist kein Kardinal. Er ist ein gewöhnlicher Priester. ein Kammerdiener. Abgesehen davon ist er zu jung.« Mortati spürte, wie die Blicke der anderen hart wurden. »Wenn ich einen Wahlgang erlaube, würde ich zulassen, dass Sie einen Mann unterstützen, der nach vatikanischem Gesetz nicht wählbar ist. Ich würde zulassen, dass jeder von Ihnen einen heiligen Eid bricht.«
»Aber. aber was hier heute Nacht geschehen ist«, stammelte jemand, »übersteigt doch gewiss unsere Gesetze.«
»Meinen Sie?«, entgegnete Mortati schneidend, ohne zu wissen, woher er die Kraft dazu nahm. »Ist es Gottes Wille, dass wir die Regeln unserer Kirche missachten? Ist es Gottes Wille, dass wir Vernunft und Logik ablegen und uns in Ekstase ergehen?«
»Aber Sie haben das Gleiche gesehen wie wir alle!«, rief jemand ärgerlich. »Wie können Sie es wagen, diese Demonstration der Macht infrage zu stellen?«
Mortatis Stimme antwortete mit einer Kraft, von der er bisher gar nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. »Ich stelle Gottes Macht gewiss nicht infrage! Es ist Gott, der uns Verstand und Umsicht gab! Es ist Gott, dem wir dienen, indem wir umsichtig zu Werke gehen!«
Kapitel 129.
Vittoria Vetra saß wie betäubt auf einer Bank in der Halle vor der Sixtinischen Kapelle, am Fuß der Scala Royale. Als sie die Gestalt bemerkte, die durch die Hintertür kam, fragte sie sich erschreckt, ob sie einen weiteren Geist sah. Doch dieser Geist hier war bandagiert, humpelte und trug eine Art Sanitätsoverall.
Vittoria sprang auf. Sie wollte ihren Augen nicht trauen.
»Robert?«
Er antwortete nicht. Stattdessen kam er auf sie zu, schloss sie in die Arme und küsste sie - ein impulsiver, sehnsüchtiger KUSS voller Dankbarkeit.
Vittoria spürte, wie die Tränen kamen. »O Gott, ich danke dir.«
Langdon küsste sie erneut, leidenschaftlicher diesmal, und Vittoria verlor sich in seiner Umarmung und vergaß alle Furcht und allen Schmerz.
»Aber es ist der Wille des Herrn!«, rief einer der Kardinale. Die Stimme hallte laut durch die Kapelle. »Wer sonst, wenn nicht der Auserwählte, hätte diese teuflische Explosion überlebt?«
»Ich!«, antwortete eine Stimme aus dem hinteren Teil der Kapelle.
Mortati und die anderen wandten sich verwirrt zu der verwahrlosten, bandagierten Gestalt um, die durch den Mittelgang nach vorne kam. »Signore. Signore Langdon?«
Ohne ein Wort ging Langdon nach vorn. Vittoria trat ebenfalls ein. Ihr folgten zwei Wachen, die einen Rolltisch mit einem großen Fernseher vor sich herschoben. Langdon schaute die Kardinale an und wartete, während die Wachen das Gerät anschlossen. Als sie fertig waren, bedeutete er ihnen mit einer
Handbewegung, den Raum zu verlassen. Sie gehorchten und schlossen die Tür hinter sich.
Jetzt waren nur noch Langdon, Vittoria und die Kardinale im Raum. Langdon verband den kleinen Camcorder mit dem Eingang des Fernsehers. Dann drückte er auf PLAY.
Der Bildschirm wurde hell.
Das päpstliche Amtszimmer war zu sehen. Das Video war amateurhaft aufgenommen, wie von einer versteckten Kamera. Ein wenig außerhalb der Bildmitte stand der Camerlengo im Halbdunkel vor einem Kaminfeuer. Im ersten Augenblick schien es, als redete er direkt in die Kamera, doch rasch wurde offensichtlich, dass er sich mit jemand anderem unterhielt demjenigen, der dieses Video gefilmt hatte. Langdon erklärte den Kardinalen, dass es Maximilian Kohler gewesen war, der getötete Generaldirektor von CERN. Das Treffen mit dem Camerlengo hatte vor gerade einer Stunde stattgefunden, und Kohler hatte es gewohnheitsmäßig mit dem winzigen Camcorder gefilmt, der unauffällig unter der Lehne seines elektrischen Rollstuhls befestigt war.
Mortati und die Kardinale beobachtete die Szene mit wachsender Verwirrung. Die Unterhaltung war zwar bereits im Gange, doch Langdon machte sich nicht die Mühe, die Aufzeichnung zurückzuspulen. Die Szene, die er den Kardinalen zeigen wollte, kam offensichtlich noch.
»Leonardo Vetra hat also Tagebücher geführt?«, fragte der Camerlengo. »Das ist eine gute Nachricht für CERN. Wenn in den Tagebüchern etwas über sein Verfahren zur Erzeugung von Antimaterie steht.«
»Es findet sich nichts darüber«, unterbrach ihn Kohler. »Und Sie sind gewiss erleichtert, dass dieses Verfahren mit Leonardo gestorben ist. Allerdings wird in seinen Tagebüchern etwas anderes erwähnt. Sie.«
Der Camerlengo wirkte beunruhigt. »Ich verstehe nicht.« »Leonardo hat von einem Treffen geschrieben, das letzten Monat stattgefunden hat. Mit Ihnen.«
Der Camerlengo zögerte, dann schaute er zur Tür. »Rocher hätte Sie nicht einlassen dürfen, ohne mich vorher zu fragen. Wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?«
»Rocher kennt die Wahrheit. Ich habe vorher angerufen und ihm gesagt, was Sie getan haben.«
»Was ich getan habe? Was für eine Geschichte Sie ihm auch erzählt haben, Rocher gehört zur Schweizergarde und ist seiner Kirche viel zu sehr verbunden, als dass er einem Wissenschaftler mehr glauben würde als dem Camerlengo.«
»Offen gestanden, er ist viel zu vertrauensvoll, um nicht zu glauben. Er ist so vertrauensvoll, dass er trotz aller Indizien nicht glauben konnte, dass einer seiner loyalen Schweizergardisten die Kirche verraten haben könnte. Er weigerte sich, diesen Gedanken zu akzeptieren. Den ganzen Tag hat er nach einer anderen Erklärung gesucht.«
»Und Sie haben ihm eine geliefert.«
»Die Wahrheit, so schockierend sie auch war.«
»Wenn Rocher Ihnen geglaubt hätte, stünde ich längst unter Arrest.«
»Nein. Ich habe es nicht zugelassen. Ich bot ihm mein Schweigen als Gegenleistung für dieses Treffen.«
Der Camerlengo stieß ein merkwürdiges Lachen aus. »Sie wollen die Kirche mit einer Geschichte erpressen, die Ihnen kein Mensch glaubt!«
»Ich habe es nicht nötig, die Kirche zu erpressen. Ich möchte lediglich die Wahrheit erfahren, aus Ihrem Mund. Leonardo Vetra war mein Freund.«
Der Camerlengo starrte Kohler an und schwieg.
»Wie wäre es damit?«, sagte Kohler. »Vor etwa einem Monat hat sich Leonardo Vetra mit Ihnen in Verbindung gesetzt und um eine dringende Audienz beim Papst gebeten - eine Audienz, die Sie gewährt haben, weil der Papst ein Bewunderer von Leonardos Arbeit war und weil Leonardo sagte, dass es ein Notfall sei.«
Der Camerlengo schwieg noch immer und wandte sich zum Feuer um.
»Leonardo besuchte den Vatikan in aller Heimlichkeit. Er verriet das Vertrauen seiner Tochter, indem er hierher kam was ihm sehr zu schaffen machte, doch er sah keinen anderen Ausweg. Seine Forschung hatte ihn in einen tiefen Konflikt gestürzt, und er brauchte geistige Erbauung von Seiten der Kirche. Während des geheimen Treffens informierte er Sie und den Papst über seine wissenschaftliche Entdeckung und deren weitreichende Auswirkungen auf die Religion. Leonardo hatte bewiesen, dass die Schöpfung physikalisch möglich ist, und dass man mithilfe gewaltiger Energiequellen - das, was Leonardo Gott nannte - den Augenblick der Schöpfung nachvollziehen kann.«