»Ich gehe links herum«, entschied Vittoria. »Sie nehmen die rechte Seite. Wir treffen uns auf der gegenüberliegenden Seite.«
Langdon grinste düster.
Als Vittoria gegangen war, schritt auch Langdon aus. Die Stimme des Assassinen schien in dem toten Raum ringsum widerzuhallen. Acht Uhr. jungfräuliche Opfer auf den Altären der Wissenschaft... eine mathematische Progression des Todes. Acht... neun... zehn... elf. und um Mitternacht. Langdon warf einen Blick auf die Uhr. Acht Minuten vor acht. Noch acht Minuten.
Er näherte sich der ersten Nische und kam am Grab eines der katholischen Könige von Italien vorbei. Der Sarkophag lag schief. Eine Gruppe von Besuchern schien deswegen zu rätseln. Langdon blieb nicht stehen, um es zu erklären. Christliche Gräber waren häufig so ausgerichtet, dass die Gesichter der Toten nach Osten zeigten, ohne Rücksicht auf die umgebende
Architektur. Erst letzten Monat hatte Langdon noch in der Symbolologie-Vorlesung mit seinen Studenten über diesen alten Aberglauben diskutiert.
»Das ist völlig absurd!«, hatte eine Studentin in der ersten Reihe gerufen, als Langdon den Grund für die nach Osten zeigenden Gräber erklärt hatte. »Warum sollten Christen ihre Gräber der aufgehenden Sonne zuwenden? Wir sprechen vom Glauben an Christus, nicht von irgendwelchen Sonnenanbetern.«
Langdon hatte still gelächelt und war, einen Apfel kauend, vor der Tafel auf und ab gegangen. »Mr. Hitzrot«, rief er.
»Wer, ich?« Ein junger Mann, der in einer der hinteren Reihen geistesabwesend gedöst hatte, schrak hoch.
Langdon deutete auf das Poster an der Wand, auf dem ein Renaissancebild zu sehen war. »Wer ist dieser Mann, der vor Gott kniet?«
»Ah. irgendein Heiliger?«
»Brillant. Und woher wissen Sie, dass er ein Heiliger ist?«
»Er hat einen Heiligenschein?«
»Ausgezeichnet. Und an was erinnert Sie dieser goldene Heiligenschein?«
Hitzrot lächelte verlegen. »Diese ägyptischen Dinger, über die wir im letzten Semester gesprochen haben? Diese. äh, Sonne nscheiben?«
»Danke sehr, Mr. Hitzrot. Legen Sie sich wieder hin.« Langdon wandte sich an seine Hörer. »Halos entstammen, wie viele andere Gegenstände der christlichen Symbolologie, der ägyptischen Sonnenanbetung. Das gesamte Christentum ist durchsetzt mit Beispielen dafür.«
»Verzeihung«, widersprach die junge Studentin in der ersten Reihe. »Ich gehe regelmäßig zur Kirche, aber ich habe noch nie gesehen, dass dort die Sonne angebetet würde.«
»Tatsächlich nicht? Und was feiern Sie am fünfundzwanzigsten Dezember?«
»Weihnachten. Christi Geburt.«
»Und doch wurde Christus der Bibel nach im März geboren. Warum also feiert die Christenheit dieses Ereignis Ende Dezember?«
Schweigen.
Langdon lächelte. »Der fünfundzwanzigste Dezember, meine Freunde, ist der alte heidnische Feiertag der unbesiegten Sonne, des Gottes Sol Invictus Heliogabalus. Er fällt mehr oder weniger mit der Wintersonnenwende zusammen. Das ist dieser wundervolle Tag im Jahr, an dem die Sonne zurückkehrt und von wo an die Tage wieder länger werden.«
Langdon nahm einen weiteren Bissen vom Apfel.
»Aufblühende Religionen adoptieren häufig existierende Feiertage, um neuen Gläubigen den Übertritt zu erleichtern«, fuhr er fort. »Man nennt dieses Phänomen Transmutation. Es hilft den Menschen, sich an den neuen Glauben zu gewöhnen. Sie behalten ihre alten Feiertage, beten an den gleichen heiligen Orten, benutzen ähnliche Symbole. lediglich die Gottheit wird ersetzt.«
Jetzt wurde die junge Frau in der ersten Reihe richtig wütend. »Sie wollen doch wohl nicht andeuten, dass das Christentum nichts weiter ist als eine Art. eine Art Sonnenanbeterei in neuer Verpackung?«
»Nicht im Geringsten. Das Christentum hat nicht nur bei den Sonnenanbetern Anleihen gemacht. Das Ritual der Heiligsprechung beispielsweise ist den
alten>Gottwerdungsritualen<des Euhemerismus entliehen, und die Praxis des>Gott-Essens<entstammt dem Mithra-Kult und geht auf Zarathustra zurück. Nicht einmal das Konzept, dass Christus für unsere Sünden starb, ist exklusiv; das Selbstopfer eines jungen Mannes, um die Sünden seines Stammes auf sich
zu nehmen, reicht bis in die früheste Zeit zurück.«
Die junge Frau funkelte ihn wütend an. »Ist denn überhaupt etwas am Christentum echt?«
»Es ist eine Tatsache, dass jede organisierte Religion nur wenig Echtes besitzt. Religionen entstehen nicht aus dem Nichts. Sie entstehen auseinander. Moderne Religionen sind ein Sammelsurium. eine historische Abfolge, welche die Suche des Menschen nach göttlichem Verständnis widerspiegelt.«
»Äh. einen Augenblick bitte!«, rief Hitzrot, der mit einem Mal hellwach wirkte. »Ich weiß etwas, das ursprünglich christlich ist! Oder was sagen Sie zu unserem Bild von Gott? Christliche Kunst porträtiert Gott niemals als Falken oder Sonne oder sonst irgendetwas, sondern stets als alten Mann mit langem, weißem Bart. Also ist unser Bild von Gott ursprünglich, richtig?«
Langdon lächelte erneut. »Als die frühen Christen ihre alten Gottheiten aufgaben - heidnische Götter, römische Götter, griechische Götter -, wollten sie von der Kirche wissen, wie ihr neuer Gott denn aussieht. Und die Kirche wählte in kluger Umsicht das meistgefürchtete, weiseste, mächtigste und vertrauteste Gesicht in der Geschichte der heidnischen Götter.«
Hitzrot schien skeptisch. »Ein alter Mann mit einem weißen Rauschebart?«
Langdon deutete auf die Hierarchie der griechischen Götter auf einer Wandtafel. Zuoberst saß ein Mann mit weißem, langem Bart. »Kommt Ihnen Zeus ‘nicht irgendwie bekannt vor?«
Das Klingelzeichen beendete die Stunde wie auf ein Stichwort.
»Guten Abend«, sagte eine Männerstimme.
Langdon zuckte zusammen. Er war wieder im Pantheon. Er wandte sich um und sah sich einem älteren Mann gegenüber, der ein blaues Cape mit einem roten Kreuz auf der Brust trug. Er lächelte Langdon an und entblößte eine Reihe vergilbter Zähne.
»Sie sind Engländer, habe ich Recht?« Der Mann sprach mit starkem toskanischem Akzent.
Langdon blinzelte verwirrt. »Offen gestanden, nein. Ich bin Amerikaner.«
Der Mann blinzelte verlegen. »Oh, bitte verzeihen Sie. Sie waren so schick gekleidet, und da dachte ich. bitte entschuldigen Sie.«
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Langdon mit wild pochendem Herzen.
»Offen gestanden, dachte ich eigentlich, ich könnte Ihnen helfen. Ich bin der Cicerone, wissen Sie?« Der Mann deutete stolz auf sein Abzeichen, das ihn als städtischen Fremdenführer auswies. »Meine Aufgabe besteht darin, Ihren Aufenthalt in Rom so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten.«
Noch abwechslungsreicher?, dachte Langdon. Eigentlich war sein Aufenthalt in Rom durchaus kurzweilig genug.
»Sie sehen wie ein gebildeter Mann aus«, schmeichelte der Führer. »Ohne Zweifel haben Sie größeres Interesse an der Kultur als viele andere. Vielleicht darf ich Ihnen ein wenig über die Geschichte dieses faszinierenden Bauwerks erzählen?«
Langdon lächelte freundlich. »Das ist sehr nett von Ihnen, doch ich bin, offen gestanden, selbst Kunsthistoriker und weiß.«
»Ausgezeichnet!« Die Augen des Fremdenführers leuchteten auf, als hätte er sechs Richtige im Lotto. »Dann wissen Sie dieses Gebäude ohne Zweifel zu würdigen!«
»Ich denke, ich würde lieber.«
»Das Pantheon.«, erklärte der Mann und begann seinen einstudierten Vortrag, »wurde im Jahre siebenundzwanzig vor Christus von Marcus Agrippa gebaut.«