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Sie rannten lachend weiter.

Sylvie stand in betäubtem Staunen da. Als Katholikin, die unter Wissenschaftlern arbeitete, musste sie immer wieder antireligiöses Getuschel ertragen - doch diese Kinder schienen sich zu freuen über den Verlust, den die Kirche erlitten hatte. Wie konnten sie so herzlos sein? Warum all dieser Hass?

Für Sylvie war die Kirche stets eine harmlose Einrichtung gewesen. ein Ort der Gemeinschaft und der Besinnung. und manchmal einfach ein Platz, an dem sie laut singen konnte, ohne dass andere sie anstarrten. Die Kirche markierte die

Meilensteine ihres Lebens - Beerdigungen, Hochzeiten, Taufen, Feiertage -, und sie verlangte im Gegenzug überhaupt nichts. Selbst die Geldspenden waren freiwillig. Sylvies Kinder kamen jede Woche voller neuer Ideen aus dem Religions Unterricht, wie sie anderen helfen konnten und bessere Menschen wurden. Was konnte daran falsch sein?

Sie hatte nie aufgehört zu staunen, dass so viele von CERNs so genannten »brillanten Köpfen« die Bedeutung der Kirche nicht erkannten. Glaubten sie tatsächlich, dass Quarks und Mesonen den durchschnittlichen Menschen inspirieren konnten?

Oder dass mathematische Gleichungen das Bedürfnis der Menschen ersetzten, an etwas Göttliches zu glauben?

Benommen ging Sylvie den Gang hinunter. Jedes Zimmer war voll. Sie dachte über den Anruf nach, den Maximilian Kohler früher am Tag aus dem Vatikan erhalten hatte. Zufall? Vielleicht. Der Vatikan rief von Zeit zu Zeit bei CERN an, aus »Höflichkeit«, bevor er beißende Kommentare veröffentlichte, in denen er die Arbeiten CERNs wegen der sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Gentechnologie verurteilte -in letzter Zeit hauptsächlich CERNs bahnbrechende Entdeckungen auf dem Gebiet der Nanotechnologie. CERN scherte sich nicht darum. Und jedes Mal klingelten Kohlers Telefone nach einer neuen Tirade ununterbrochen: Forschungsgesellschaften und Konzerne riefen an, die CERNs neue Entdeckung lizenzieren wollten. »Es gibt keine schlechte Publicity«, pflegte Kohler zu sagen.

Sylvie überlegte, ob sie Kohler - wo auch immer er zurzeit gerade steckte - mit dem Pager benachrichtigen und ihm sagen sollte, er möge sich die Nachrichten anschauen. Hatte er bereits von den Attentaten gehört? Selbstverständlich hatte er. Wahrscheinlich nahm er den gesamten Fernsehbeitrag mit seinem kleinen Camcorder auf und lächelte zum ersten Mal seit

einem Jahr.

Sylvie ging durch den Korridor und fand endlich einen Kaum, in dem die Stimmung gedrückt war. beinahe melancholisch. Die Wissenschaftler, die hier saßen und die Nachrichten verfolgten, gehörten zu den ältesten und geachtetsten Mitarbeitern von CERN. Sie blickten nicht einmal auf, als Sylvie ins Zimmer trat und sich auf einen freien Platz setzte.

Auf der anderen Seite von CERN, in Leonardo Vetras nüchternem Apartment, las Kohler die letzten Zeilen in dem ledergebundenen Tagebuch, das er aus Vetras Nachttisch genommen hatte. Nun saß er dort und verfolgte die Nachrichten auf dem kleinen Fernsehbildschirm. Nach ein paar Minuten schob er das Tagebuch in den Nachttisch zurück, schaltete den Fernseher aus und rollte aus Vetras Wohnung.

In der Vatikanstadt trug Kardinal Mortati ein weiteres Tablett mit aufgespießten Wahlzetteln zum Kamin der Sixtinischen Kapelle. Er verbrannte sie, und der aufsteigende Rauch war schwarz.

Zwei Wahlgänge. Kein neuer Heiliger Vater.

Kapitel 83.

Die Taschenlampen konnten die gewaltige Schwärze des Petersdoms nicht annähernd erhellen. Das Nichts über ihren Köpfen drückte auf sie herab wie eine sternenlose Nacht, und Vittoria empfand die Leere ringsum wie einen endlosen Ozean. Sie blieb dicht bei den Schweizergardisten und dem Camerlengo, die zielstrebig durch den Dom eilten. Hoch oben unter der Decke gurrte eine Taube und flatterte davon.

Unvermittelt ging der Camerlengo langsamer und legte Vittoria die Hand auf die Schulter, als hätte er ihr Unbehagen gespürt. Spürbare Kraft übertrug sich aus dieser Berührung, als übermittelte der Camerlengo ihr die Ruhe, die sie für die vor ihr liegende Aufgabe brauchte.

Was haben wir uns da vorgenommen, dachte sie. Das ist Irrsinn!

Und doch, so wusste Vittoria, war die vor ihnen liegende

Aufgabe unausweichlich, trotz aller Pietätlosigkeit und allem im vermeidbaren Entsetzen. Die schweren Entscheidungen, die der Camerlengo zu treffen hatte, verlangten sichere Informationen. Informationen, die nur in einem Sarkophag in der Krypta unter dem Petersdom zu finden waren. Vittoria fragte sich, was sie vorfinden würden. Haben die Illuminati den Papst ermordet? Reicht ihre Macht tatsächlich so weit? Stehe ich wirklich im Begriff, die erste Autopsie an einem Papst vorzunehmen?

Es war eine Ironie, dass sie sich in dieser unbeleuchteten Kirche unsicherer fühlte, als würde sie des Nachts mit einem Barrakuda schwimmen. Die Natur war schließlich Vittorias Zuhause. Die Natur jedoch verstand sie. Was aber die Menschen anging und das, was in ihnen vorging, so war sie ratlos, Die

Presse, die sich draußen auf dem Petersplatz versammelte, erinnerte sie an Raubfische, die sich zur nächtlichen Jagd einfanden. Die Fernsehbilder von den gebrandmarkten Toten gemahnten sie an den Leichnam ihres Vaters. und das raue Lachen des Mörders. Er lauerte irgendwo dort draußen. Vittoria spürte, wie aufsteigender Hass ihre Angst erstickte.

Sie umrundeten einen gewaltigen Pfeiler, und dann bemerkte Vittoria ein orangefarbenes Leuchten weiter voraus. Das Licht schien aus dem Boden im Zentrum der Basilika zu kommen. Sie näherten sich der Stelle, und Vittoria erkannte, was sie dort sah. Es war das berühmte Heiligtum vor dem Hauptaltar des Petersdoms - die große, prachtvolle Vertiefung, in der die heiligste Reliquie des Vatikans aufbewahrt wurde. Sie kamen vor dem niedrigen Geländer an, das die Vertiefung umgab, und Vittoria sah hinunter auf die goldene Truhe, die von zahllosen flackernden Öllampen umgeben war.

»Das sind wohl die Gebeine des heiligen Petrus?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

Jeder, der den Petersdom besuchte, wusste, was in der goldenen Truhe ruhte.

»Offen gestanden nein«, antwortete der Camerlengo. »Ein weit verbreiteter Irrtum. Das dort ist kein Reliquienschrein. Die Truhe enthält Pallien - das sind die gewebten Schärpen, die der Papst neu ernannten Kardinalen überreicht.«

»Aber ich dachte.«

»Genau wie jeder andere. Die Reiseführer schreiben, dies sei der Schrein des heiligen Petrus, aber sein wirkliches Grab befindet sich zwei Stockwerke tiefer in der Erde. Der Vatikan hat es in den Vierzigerjahren bei einer Grabung gefunden. Niemand darf dort hinunter.«

Vittoria war schockiert. Während sie sich von der erleuchteten Vertiefung entfernten und wieder von Dunkelheit umfangen wurden, dachte sie an die vielen Geschichten von Pilgern, die

Tausende von Kilometern gereist waren, um einen Blick auf diese goldene Truhe zu werfen, in dem festen Glauben, die Gebeine und den Geist des heiligen Petrus vor sich zu haben. »Sollte der Vatikan die Menschen denn nicht aufklären?«

»Wir alle profitieren vom Kontakt mit dem Göttlichen. selbst wenn es nur eingebildet ist.«

Vittoria war Wissenschaftlerin und wusste, dass die Argumentation durchaus den Tatsachen entsprach. Sie hatte zahllose Studien über den Placebo-Effekt gelesen -gewöhnliches Aspirin hatte Krebsleiden geheilt, nur weil die damit behandelten Patienten glaubten, eine Wundermedizin zu nehmen. Aber was war Glaube letzten Endes sonst?

»Veränderung.«, sagte der Camerlengo, ». mit Veränderungen hat der Vatikan sich immer schon schwer getan, Signorina Vetra. Er scheut es traditionell, Fehler der Vergangenheit einzugestehen und die Strukturen der Kirche zu modernisieren. Seine Heiligkeit aber wollte das ändern.« Der Camerlengo stockte. »Er wollte die Kirche in die neue Zeit führen. Nach neuen Wegen zu Gott suchen.«