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Vor zwei Monaten, an einem friedlichen Nachmittag in der Vatikanstadt, war Chartrand dem Camerlengo über den Weg gelaufen, als dieser aus einem Gebäude gekommen war. Der Camerlengo hatte den jungen Leutnant offensichtlich gleich als neuen Gardisten erkannt und ihn eingeladen, ein Stück mit ihm durch die Gärten zu spazieren. Sie hatten sich über alles und jedes unterhalten, und Chartrand hatte sogleich Vertrauen zu dem Camerlengo gefunden.

»Vater«, hatte er gesagt, »darf ich Ihnen eine Frage stellen, die Ihnen vielleicht eigenartig erscheint?«

Der Camerlengo hatte gelächelt. »Nur, wenn ich dir eine eigenartige Antwort geben darf, mein Sohn.«

Chartrand hatte gelacht. »Ich habe jeden Priester gefragt, den ich kenne, Vater, und ich verstehe es immer noch nicht.«

»Was verstehst du nicht, mein Sohn?« Der Camerlengo hatte ihn mit kurzen, schnellen Schritten durch die Gärten geführt, mit wallender Soutane, und die weichen Kreppsohlen seiner Schuhe erschienen Chartrand perfekt auf das Wesen dieses Mannes abgestimmt - modern, doch demütig, und mit ersten Zeichen von Ermüdung.

Chartrand hatte tief durchgeatmet. »Was ich nicht verstehe, ist diese Sache mit der Allmacht und der grenzenlosen Güte, Vater.«

Der Camerlengo hatte gelächelt. »Du hast die Heilige Schrift studiert, mein Sohn.«

»Ich versuche es, Vater.«

»Du bist verwirrt, weil die Bibel Gott als eine allmächtige und gütige Wesenheit beschreibt.«

»Ja.«

»Allmächtig und gütig bedeutet lediglich, dass Gott alles kann und es gut mit uns Menschen meint.«

»Ich verstehe das Konzept, Vater. es ist nur. Ich sehe da einen Widerspruch.«

»Ja. Der Widerspruch lautet Schmerz. Menschen verhungern, führen Kriege, werden krank.«

»Genau!« Chartrand wusste, dass der Camerlengo ihn verstehen würde. »Es geschehen so schreckliche Dinge in dieser Welt. Die menschliche Tragödie erscheint wie der Beweis, dass Gott längst nicht so allmächtig und gütig ist, wie die Bibel es sagt. Wenn Er uns liebte und die Macht besäße, alles zu ändern, dann würde Er es doch sicher tun, oder nicht?«

Der Camerlengo runzelte die Stirn. »Würde Er das?«

Chartrand wurde nervös. Hatte er seine Grenzen überschritten? War dies ene der religiösen Fragen, die man nicht stellte? »Nun, ich meine. wenn Gott uns liebt und die Macht besitzt, uns zu beschützen, muss Er es doch tun! Es scheint, dass Er entweder allmächtig und ohne Liebe ist, oder Er ist gütig und besitzt nicht die Macht, uns zu helfen.«

»Haben Sie Kinder, Leutnant?«

Chartrand errötete. »Nein, Monsignore.«

»Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen achtjährigen Sohn. würden Sie ihn lieben?«

»Selbstverständlich.«

»Würden Sie alles in Ihrer Macht stehende tun, um Schaden von ihm abzuwenden?«

»Natürlich.«

»Würden Sie ihn mit dem Skateboard fahren lassen?«

Chartrand glaubte im ersten Augenblick, nicht richtig gehört zu haben. Der Camerlengo schien für einen Geistlichen stets gut informiert zu sein, was die Welt draußen betraf. »Ja, ich denke schon«, sagte Chartrand schließlich. »Sicher, ich würde ihn damit fahren lassen, aber ich würde ihn auch ermahnen, vorsichtig zu sein.«

»Also würden Sie als Vater diesem Kind ein paar grundlegende Ratschläge mit auf den Weg geben, und dann würden Sie es seine eigenen Fehler machen lassen?«

»Ich würde nicht hinter ihm herlaufen und ihn in Watte packen, wenn es das ist, was Sie meinen, Vater.«

»Und wenn er hinfallen und sich die Knie aufschlagen würde?«

»Dann würde er lernen, beim nächsten Mal besser aufzupassen.«

Der Camerlengo lächelte. »Also würden Sie Ihre Liebe dadurch zeigen, dass sie ihm ermöglichen, seine Lektionen selbst zu lernen, obwohl Sie einschreiten und Schmerz von Ihrem Kind abwenden könnten?«

»Selbstverständlich. Schmerz gehört zum Aufwachsen. Auf diese Art und Weise lernen wir Menschen.«

Der Camerlengo nickte nur. »Genau.«

Kapitel 90.

Robert Langdon und Vittoria Vetra beobachteten die Piazza Barberini aus dem Schatten einer schmalen Nebengasse, die in die westliche Ecke des Platzes mündete. Die Kirche lag ihnen genau gegenüber, eine verschwommene Kuppel, die aus einer Gruppe von Gebäuden auf der anderen Seite des Platzes aufragte. Die Nacht hatte eine willkommene Kühle gebracht, und Langdon war überrascht, dass keine Menschen auf der Piazza zu sehen waren. Über ihnen plärrten Fernseher in offenen Fenstern und erinnerten daran, wohin alle verschwunden waren.

». bisher noch keine Stellungnahme des Vatikans. Illuminati haben zwei Kardinale ermordet. satanische Gruppe in Rom. Spekulationen über tief greifende Infiltration.«

Die Nachrichten hatten sich verbreitet wie Neros Feuer. Rom saß wie angewurzelt vor den Fernsehern, genau wie der Rest der Welt. Langdon fragte sich, ob sie wirklich imstande waren, diesen Zug noch zum Halten zu bringen. Während er den Platz im Auge behielt und wartete, fiel ihm auf, dass er trotz der neuen Gebäude noch immer eine bemerkenswert elliptische Form besaß. Hoch über ihnen blinkte ein gewaltiges Neonschild auf dem Dach eines Luxushotels. Vittoria hatte es bereits früher als Langdon bemerkt und ihn darauf hingewiesen. Der Name schien unheimlich passend:

HOTEL BERNINI

»Fünf vor zehn«, sagte Vittoria, während sie mit ihren Katzenaugen weiter unablässig den Platz absuchte. Sie hatte die Worte noch nicht zu Ende ausgesprochen, als sie plötzlich Langdons Arm packte und ihn in den Schatten zog. Dann deutete sie auf die Mitte des Platzes.

Langdon folgte ihrem ausgestreckten Finger. Als er sah, was

sie meinte, versteifte er sich.

Unter einer Straßenlaterne bewegten sich zwei dunkle Gestalten. Beide trugen dunkle Tücher über den Köpfen und hatten das Gesicht verhüllt - die traditionelle Kleidung katholischer Witwen. Für Langdon sahen sie aus wie Frauen, doch in der Dunkelheit war er sich seiner Sache nicht sicher. Eine der beiden schien älter zu sein und bewegte sich vornübergebeugt, als litte sie unter Schmerzen. Die andere, größer und kräftiger, schien sie zu stützen.

»Geben Sie mir die Pistole«, verlangte Vittoria.

»Sie können doch nicht einfach.«

Geschickt wie eine Katze langte Vittoria einmal mehr in seine Brusttasche. Die Pistole glitzerte stumpf in ihrer Hand. Dann wandte sie sich um und eilte nach links in die Schatten, ohne das geringste Geräusch zu verursachen, so als berührten ihre Füße den gepflasterten Boden überhaupt nicht. Sie umrundete das Paar, um sich von hinten zu nähern. Langdon stand einen Augenblick wie erstarrt da, als Vittoria sich in Bewegung setzte. Schließlich folgte er ihr, während er leise vor sich hin fluchte.

Die beiden dunklen Gestalten kamen nur langsam voran, und es dauerte keine halbe Minute, bis Langdon und Vittoria hinter ihnen waren und sich von dort näherten. Vittoria hielt die Waffe verborgen, außer Sicht, doch jederzeit einsatzbereit. Als Langdon gegen einen Kieselstein trat und ein lautes Geräusch verursachte, warf sie ihm einen nervösen Seitenblick zu. Doch die beiden Gestalten schienen nichts gehört zu haben. Sie unterhielten sich.

Als sie noch zehn Meter hinter ihnen waren, hörte Langdon zum ersten Mal Stimmen. Keine deutlichen Worte, nur leises Gemurmel. Vittoria lockerte ihre Arme, und die Waffe wurde sichtbar. Sechs Meter. Die Stimmen waren nun lauter - eine sehr viel lauter als die andere. Zornig. Langdon erkannte die Stimme einer alten Frau. Rau. Keifend. Er strengte sich an, um sie zu verstehen, doch eine zweite Stimme durchschnitt die Nacht.