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Ich konnte nicht nach Lea suchen. Ich konnte Klara nicht warnen. Ich wusste nicht einmal, ob die beiden noch lebten. Hilflos schlug ich mir die Fäuste an den feuchten, schimmeligen Kerkermauern wund. War es nicht allein meine Schuld, dass diese beiden Frauen nun in höchster Gefahr schwebten? War ich nicht Quell und Ursprung eines jeden Unglücks?

Ich wollte beten, doch fand ich keine Worte, in die ich meine Reue, meine Scham, mein Flehen, meine Hoffnung kleiden konnte. Mutlos sank ich zu Boden und weinte wie ein kleiner Junge. Wie viele Stunden ich dort würdelos im Schmutz lag, vermag ich nicht zu sagen. Irgendwann jedoch durchfuhr mich ein Gedanke: Wie würde es aussehen, wenn genau in diesem Augenblick der Inquisitor die Kerkerpforte öffnete? Sollte man mich so finden, heulend wie ein Waschweib? Wehklagend wie eine Bäuerin? Ich war immer noch Dominikaner. Ich war ein Mann GOTTES. Es war, so glaubte ich, mein letzter Kampf. Also wollte ich ihn kämpfen bis zur Neige.

So ermahnte ich mich, tapfer und besonnen zu sein. Mir fielen die Worte des Baders Nicolas Garmel ein, dass jedermann unter der Folter zusammenbrechen werde. Wohlan, so wollte ich mich wappnen. Auf keinen Fall wollte ich schon aufgeben, noch bevor die Folter überhaupt begonnen hatte. Die beiden Knechte mit ihrer Streckbank und ihren glühenden Eisen sollten sehen, wie ein Mönch in diese Qualen ging.

So setzte ich mich denn nieder, bequem, so weit es eben ging. Dann dachte ich nach, um mir darüber klar zu werden, warum ich überhaupt in diese Hölle auf Erden geraten war, und auch, um alle Dämonen aus meiner Seele zu bannen.

Mein Unglück hatte begonnen, als ich zu dem toten Mönch geführt worden war. Genauer gesagt, es hatte mit der letzten Botschaft des sterbenden Heinrich von Lübeck begonnen: mit den Worten terra perioeci. Das Werk des Castorius aus Ravenna, selbst vielen Gelehrten unbekannt, hatte jener unglückliche Dominikaner bei sich getragen. Dieses Buch hatte jenes geheimnisvolle Land verzeichnet. Und dieses Buch war von dem Vaganten Pierre de Grande-Rue, der zufällig des Weges kam, dem Sterbenden oder schon Toten gestohlen worden. Dann gab es die Verbindung zu Richard Helmstede: Heinrich von Lübeck war Beichtvater von dessen Bruder gewesen. Dieser Bruder wiederum war mit seiner Kogge »Kreuz der Trave« auf eine rätselhafte Irrfahrt geraten, die schließlich den Kapitän und all seinen Männern das Leben gekostet hatte.

Die Kogge. Nun, in der Dunkelheit meiner Zelle und viel zu spät, um noch irgendetwas tun zu können, erinnerte ich mich wieder der eher beiläufigen Worte meiner Geliebten. Klara Helmstede hatte von dem schauderhaft anzusehenden Fell gesprochen, das sie an Bord des Schiffes gefunden hatte, dazu von einem seltsamen Korn. Alles war längst verbrannt worden.

Und doch: War dies nicht ein handfester Beweis dafür, dass die Kogge in einem fernen Land angelegt hatte? Einem Land, in dem schreckliche Wesen lebten und seltsame Pflanzen gediehen? Heinrich von Lübeck hatte dem daniederliegenden Kapitän die Beichte abgenommen. Was hätte ihn besser davon überzeugen können, dass er nicht den Fieberfantasien eines Sterbenden lauschte, sondern einer wahren Geschichte, wenn nicht das Fell und das Korn an Bord der »Kreuz der Trave«?

Heinrich von Lübeck wiederum, mir schauderte, musste das Geheimnis der Beichte gebrochen haben, musste jene Vertrautheit, die doch so groß sein sollte wie die zwischen Vater und Sohn, verraten haben. Was hatte ihn dazu bewogen?

Irgendwie musste er - oder war es der sterbende Kapitän? - zu dem Schluss gekommen sein, dass jenes Land, das die Kogge erreichte, das Land der Periöken sei. Vielleicht erschien das dem Mönch gewichtig genug, um sich gelehrten Mitbrüdern anzuvertrauen. Und wo lebten die gelehrtesten Dominikaner des Abendlandes? In Paris. War Heinrich von Lübeck nach Paris gereist, um hier seinen Mitbrüdern von der terra perioeci zu berichten? Wenn dem so war, dann musste dies zweifellos auch Philippe de Touloubre zu Ohren gekommen sein. Doch hatte dieser, als er die Leiche des Mönches erblickte, mit keinem Wort, mit keiner Geste angezeigt, dass er von jenem Land bereits zuvor gehört hatte. Hatte mich der Inquisitor getäuscht? Oder hatte ich etwas übersehen?

Als Heinrich von Lübeck so ruchlos niedergestreckt wurde, lag die »Kreuz der Trave« jedenfalls schon längere Zeit an dem Kai am Ufer der Seine. Es war außerordentlich, dass eine Kogge aus Lübeck bis nach Paris segelte. Noch ungewöhnlicher war, dass ihr Kapitän offenbar nicht einmal ahnte, warum er dorthin gefahren war. Heinrich von Lübeck musste Richard Helmstede irgendwie überzeugt — oder ihn dazu gezwungen — haben, Paris anzusteuern, obwohl nicht einmal er wusste, wozu. Wusste ich mehr als der Kapitän?

Es war nun nicht mehr schwer zu erraten, dass die »Kreuz der Trave« wohl jenes Land der Periöken ansteuern sollte. Die Karte des Castorius, endlich geborgen aus dem Versteck des Vaganten, die ein namenloser Mönch dem Reeder überreicht hatte: Was konnte sie anderes sein als die Karte, nach der Richard Helmstede den Kurs seines Schiffes richten sollte?

War Heinrich von Lübeck in der Nacht seines Todes mit jenem Werk auf dem Weg zu Richard Helmstede gewesen? Das Haus, das der Reeder gemietet hatte, lag einen langen Fußmarsch von Notre-Dame entfernt; die Kogge hingegen war nur einige Dutzend Schritte weiter festgemacht. Wurde der Mönch ermordet, um jene Karte nicht in die Hände des Reeders gelangen zu lassen? Doch wer sollte dies tun? Und weshalb? Vollendeten die Mitbrüder nun, was Heinrich von Lübeck begonnen hatte? Doch wozu? Weshalb hätte Meister Philippe mir gegenüber von alldem geschwiegen?

Weil dieses Werk oder die Fahrt der Kogge irgendetwas mit jenen Fälschungen zu tun hatte, auf deren Spur ich in der Bibliothek des Kollegium de Sorbon gekommen war — jenen stillen, sorgfältigen, unheimlichen Tilgungen hier und in vielleicht allen Bibliotheken der Christenheit?

War es vielleicht so, dass seit vielen Monaten Bücher allerorten geändert wurden — seit Heinrich von Lübeck sein Wissen um die terra perioeci den Mitbrüdern offenbart hatte? War es möglich, dass Paris das Zentrum jener weit verzweigten Verschwörung war? Falls dem so war: War es denkbar, dass die Mönche ihr Tun sogar dem Heiligen Vater in Avignon verschwiegen hatten? Wurde selbst der Papst von ihnen getäuscht?

Diese und noch viele andere Fragen vermochte ich nicht zu lösen, obgleich ich doch Stunde um Stunde in der Zelle saß und grübelte. Warum etwa war Heinrich von Lübeck kurz vor seiner Ermordung zum jüdischen Geldwechsler Nechenja ben Isaak gegangen? Warum begehrte er, ausgerechnet dort das kaum bekannte Werk »Liber floribus« des Lambert von Saint-Omer zu sehen? Ja, wenn ich Leas Worten Glauben schenken durfte, warum wollte er es gar in seinen Besitz bringen, zumindest aber kopieren? Auch dieses Buch nannte das Land der Periöken - hatte Heinrich von Lübecks Wunsch damit zu tun? Im Mittelpunkt all meiner Fragen stand jedoch Philippe de Touloubre: Welche Rolle spielte der Inquisitor in dem finsteren Spiel? Was wusste er von Heinrich von Lübeck, von terra perioeci, vom rätselhaften Auftrag des Lübecker Reeders? Was hatten die nächtlichen Versammlungen im Kloster, an denen Meister Philippe teilnahm, mit alldem zu schaffen? War Philippe de Touloubre vielleicht noch immer auf der Spur des Mörders? Wollte er die Schleier vor allen Geheimnissen zerreißen? Oder war er doch tief verstrickt in jene Geheimnisse — und suchte nun nach Wegen, sie auch weiterhin zu schützen? Tagelang zermarterte ich mir den Geist und war mir selbst mein eigener Folterknecht. Qualen litt ich, ohne dass dabei ein Tropfen Blut geflossen wäre. Ich wäre wohl dem Wahnsinn verfallen, hätte ich mich noch länger an diesen Rätseln versucht. Doch meine Rettung kam - ausgerechnet in Gestalt des Folterknechtes, der eines Tages im flackernden, rötlichen Schein einer Fackel die Pforte öffnete.