Wir haben ihm viel Gold gegeben für die Fahrt — es ist die erste Ausgabe aus dem Schatz der Templer, die wir jemals getätigt haben. Wir lassen Kisten mit den Münzen an Bord bringen, dazu viele Vorräte. Im letzten Augenblick werden zwölf Mönche aus unserem Kreis die Kogge betreten. Sie werden die Gründer des Neuen Jerusalems sein, jenseits des Ozeans.
Richard Helmstede wird zurückkehren und fortan zwischen jenem fernen Land und unserer Christenheit reisen und Menschen und Vorräte transportieren - so wenig, dass es niemandem je auffallen wird. Langsam wird er sorgfältig ausgewählte christliche Siedler und Streiter über den Ozean bringen, ein, zwei Dutzend auf jeder Fahrt. Niemand wird sie vermissen.
Wir hätten den Kapitän schon längst ablegen lassen, doch die Seuche, die nun in Paris wütet, hat alles verzögert. Wir müssen abwarten, bis die Krankheit abgeklungen ist — was, wie ich glaube, schon bald der Fall sein wird. Es wird nur noch ein paar Tage dauern. Nur einmal hat Satan unsere Pläne bislang gestört — eine schreckliche Fügung! Heinrich von Lübeck war dazu ausersehen, einer jener zwölf Mönche zu sein, welche die Ehre haben, das Neue Jerusalem zu gründen. Er freute sich zunächst gar sehr darüber - doch dann befielen ihn Zweifel.
Um alle unsere Spuren zu verwischen, sandten wir verschwiegene Mitbrüder aus, welche, wie du inzwischen weißt, in den Bibliotheken der Christenheit jeden Hinweis auf die terra perioeci löschen sollen. Nur einige wenige zuverlässige Karten wollten wir behalten, für den Kapitän der Kogge. Ansonsten wollten wir alles tilgen, was auf das Land jenseits des Ozeans wies. Denn was ist gefährlicher als ein weiser Text, den ein Unbefugter liest?«
»Aber es ist ein Verbrechen und eine Sünde, so viele Bücher zu fälschen«, flüsterte ich.
Da lachte Meister Philippe und schüttelte den Kopf. »Warum? Wo steht geschrieben, dass es ein Verbrechen ist? Ist es nicht vielmehr so, dass die Inquisition nicht nur einzelne Seiten, sondern ganze Bücher verbrennt, weil sie häretisch und somit gefährlich für die Kirche sind? Diese Stellen über das Land der Periöken sind zwar keine Ketzerei, doch ebenso gefährlich. Also lassen wir seit einem Jahr nach Büchern suchen, die uns bedrohlich dünkten.«
»Du selbst hast mit eigener Hand Bücher gestohlen«, warf ich ihm vorwurfsvoll an den Kopf.
Er nickte. »Ja, das tat ich, in unserem Kloster, im Kollegium de Sorbon und auch noch andernorts. Manchmal bedauere ich dies, doch weiß ich, dass es notwenig war. Das Geheimnis um die terra perioeci rechtfertigt jeden Preis. Jeden.«
»Auch ein Menschenleben.«
»Auch dies.«
Meister Philippe schloss die Augen, seine Züge zeigten Trauer, ja Schmerz. »Heinrich von Lübeck«, fuhr er schließlich fort und senkte dabei die Stimme so weit, dass auch ich ihn nun kaum noch verstehen konnte, »begrüßte freudig unser Ziel und war voller Ehrgeiz. Doch als er erfuhr, dass wir die Bücher verändern mussten, da protestierte er.«
Der Inquisitor lächelte kurz. »Da glich er dir: Auch Heinrich von Lübeck hatte vom süßen Wein des Wissens gekostet und kam nun nicht mehr los davon. Er glaubte, dass es eine unentschuldbare Sünde sei, die Bücher zu nehmen oder Sätze aus ihnen zu tilgen. Immer heftiger wurde sein Protest, immer lauter erhob er seine Stimme. Er drohte, zum Bischof von Paris zu gehen. Er drohte uns sogar mit dem Heiligen Vater.
Wir flehten ihn an, doch zu bedenken, wie herrlich und offensichtlich GOTT gefällig unser Unternehmen ist. Wir beschworen ihn, niemandem etwas von unseren Plänen zu verraten, nun, da er ein Eingeweihter sei. Eindringlich machten wir ihm deutlich, in welche Verwirrung sich die Christenheit stürzen würde, wüsste sie um den Schatz der Templer und um die terra perioeci.
Vergebens. Nicht nur, dass Heinrich von Lübeck von all unseren guten Worten nichts hören wollte. Nein, wir kamen ihm auf die Schliche, dass er seinerseits heimlich damit begann, Werke der Geografie an sich zu nehmen. Dazu stahl er sogar Geld aus den Schatzkisten der Templer! Er wollte all die Bücher kaufen, kopieren, notfalls stehlen, die wir doch verschwinden lassen mussten. Schließlich ging er zum Juden Nechenja ben Isaak …«
»Wusstet Ihr, dass der Geldwechsler eine große Bibliothek besitzt?«, fragte ich, da der Inquisitor nicht weitersprach. »Ja«, gestand er mir. »Wir glaubten, dass wir viel Zeit hätten, sie an uns zu bringen. Kein Christ, so dachten wir, würde bei einem Juden Bücher lesen wollen und wie sollte uns ein Geldwechsler schon gefährlich werden können?
Doch an jenem Abend entdeckte ich, dass unter den Büchern, die wir bereits an uns gebracht hatten, das Werk des Castorius fehlte. Auch waren wieder Münzen verschwunden. Und dann berichtete uns ein Spitzel, dass ein Mönch das Haus des Nechenja ben Isaak betreten habe. Ein Dominikaner.«
Philippe de Touloubre schloss die Augen und betete ein PATER noster. Ich schwieg.
»Heute weiß ich, dass Heinrich von Lübeck beim Juden den ›Liber floribus‹ des ketzerischen Chorherren Lambert von Saint-Omer kopieren wollte. Doch was genau er in dieser Nacht vorhatte und wozu er das Werk des Castorius und die gestohlenen Münzen bei sich trug, war uns allen ein Rätsel.
Wir berieten darüber in jener schrecklichen Nacht, doch bis heute haben wir keine Antwort darauf gefunden.
Wir wussten nicht, was Heinrich von Lübeck als Nächstes unternehmen würde. Eine Befürchtung allerdings hatten wir: dass er mit dem Castorius und der Kopie und den Münzen zum Bischof gehen würde. Die beiden Werke mochten genügen, dem Bischof die Existenz von der terra perioeci zu beweisen, und das Geld würde den Bischof in seiner Gier antreiben, uns unverzüglich mit einem Haufen Bewaffneter zu stellen.
Hätten wir dieses Risiko eingehen dürfen? Hätten wir den Traum vom Neuen Jerusalem in jener Nacht opfern sollen? Nicht einmal die Flucht wäre uns geblieben, denn mit all dem Gold und Silber wären wir zu langsam gewesen.
Wir mussten also sofort etwas unternehmen, noch in jener Nacht. Noch bevor Heinrich von Lübeck das Haus des Nechenja ben Isaak wieder verlassen hatte, mussten wir unsere Entscheidung getroffen haben.«
»Und Ihr habt Euch für den Tod entschieden«, flüsterte ich fassungslos. »Ihr opfertet tatsächlich einen Mönch, einen Mitbruder, einen Mann GOTTES.«
Ich schluckte. Nun war es an mir, ein Gebet zu sprechen. Ich gedachte des toten Heinrich von Lübeck, den ich im Leben nie kennen gelernt hatte.
»Wart Ihr es, Meister Philippe, der in jener Nacht den Befehl gab, den Mitbruder zu erstechen?«, fragte ich schließlich. Im Geheimen hoffte, ja flehte ich, dass wenigstens dies nicht so war; dass jemand anderes diese schreckliche Tat angeordnet hatte; dass Meister Philippe einen solchen Befehl niemals hätte geben können. Doch der Inquisitor starrte mich nur wortlos an und schwieg. Und da verstand ich alles. Ich erinnerte mich plötzlich der Tintenflecke, die ich an jenem allerersten Tag, da ich dem Inquisitor im Kloster vorgestellt worden war, auf seiner linken Hand gesehen hatte. Seiner Schreibhand.
»Ihr seid Linkshänder!«, flüsterte ich. »Tag für Tag habe ich Euch gesehen - und doch ist es mir nie aufgefallen.«
Trauer und Scham übermannten mich und ich weinte, wie ich in meinem Leben noch nie und niemals wieder geweint habe seither. »Ja«, gestand der Inquisitor schließlich. Seine Stimme war kalt, doch hörte ich, wie schwer es ihm fiel, ein Zittern zu unterdrücken. »Ja, ich selbst habe Heinrich von Lübeck mit einem Dolch niedergestreckt. Doch kaum hatte ich die grausige Tat ausgeführt, da hörte ich Schritte. Es war, wie ich nun weiß, der Vagant Pierre de Grande-Rue, der sich, trunken und wollüstig, der Kathedrale Notre-Dame näherte. Ich floh.
Konnte ich denn ahnen, dass jener unglückselige Mönch noch nicht tot war, nachdem ich ihn getroffen hatte? Er war zu Boden gesunken und hatte sich nicht mehr gerührt, doch er muss noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt haben; vielleicht durch die rüden Griffe des Vaganten, der ihn ausplündern wollte und dann seinerseits vor Jacquette und dem Domherrn entfloh.