So ist jedenfalls noch einmal der Geist in Heinrich von Lübeck gefahren und er hat jenen Namen geschrieben, den wir doch um jeden Preis aus dem Gedächtnis der Christenheit tilgen wollten: terra perioeci.
Er wusste genau: Hätte er meinen Namen geschrieben, hätte er geschrieben, dass ich der Mörder bin, niemand hätte dies je geglaubt. Ich bin der oberste Inquisitor von Paris! Vielmehr hätte man gedacht, dass Heinrich von Lübeck mich auf diese Weise aufgefordert hätte, ihn zu rächen.
So aber schrieb er den Namen jenes verbotenen Landes, wohl in der Hoffnung, dass jemand seine blutigen Worte lesen würde, der neugierig sei. So neugierig, dass er sich auf die Suche nach dem Land der Periöken begeben würde und darüber erführe, welche Pläne uns bewegten.
Und ich, der ich am nächsten Morgen gerufen wurde, wusste davon nichts. Welch ein Schrecken durchfuhr mich, da ich schließlich die Blutschrift las!
Und dann gab es dafür auch noch einen Zeugen: dich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich ein Mitbruder zum Ort der Tat begleiten würde. Doch der Prior, der vom Schatz der Templer so wenig weiß wie vom Land der Periöken und der nicht einmal ahnt, dass sich verschwiegene Männer regelmäßig in seinem Kloster zu nächtlichen Versammlungen treffen, dieser heilige Narr verfügte es so, weil du ein Landsmann des Toten warst und er sich davon irgendwie eine Hilfe zur Aufklärung des Rätsels erhoffte.
Wie hätte ich die Anweisung des ehrwürdigen Vaters ablehnen können? Das wäre verdächtig erschienen. Zudem glaubte ich in jenem Moment nicht, dass du mir gefährlich sein würdest. Und so hatte ich jemanden mitgenommen, der genau so war, wie Heinrich von Lübeck es sich im Todeskampf erhofft hatte: jemanden, dem Wissen über alles geht.
Und als du erst einmal die blutigen Worte gelesen hattest, da konnte ich dich nicht mehr aus meinen Diensten entlassen, denn ich befürchtete, dass du, ohne meine Kontrolle, zu unbefugten Ohren davon reden und unwissentlich irgendjemanden auf meine Spur führen würdest. Denn Spuren gab es ja genug.
Noch in der Nacht des Mordes war ich in die Bibliothek des Kollegiums de Sorbon geeilt und hatte jeden Hinweis auf das Land der Periöken im ›Liber floribus‹ getilgt — dafür nutzte ich den Namen des Heinrich von Lübeck. Ich jagte den Vaganten zu Tode. Ich opferte die elende Schönfrau und den wollüstigen Domherrn. Große Sünden beging ich, fürwahr. Eines Tages werde ich mich dafür vor einem Richter verantworten, der in mein Herz sieht. Doch fürchte ich mich nicht, denn mein Herz ist rein. Ich tat, was ich tun musste, um das Neue Jerusalem zu beschützen; um die Kirche zu beschützen; um die Christenheit zu beschützen; um das Reich GOTTES zu begründen!«
Meine Tränen waren längst versiegt. Ich fühlte mich unendlich müde und leer. »HERR, lass mich sterben!«, flehte ich leise. »Nimm mich zu DIR. DEIN Reich will ich sehen, doch nicht auf Erden, sondern im Himmel.«
»Doch wie ich mich auch mühte, alle Spuren zu verwischen«, fuhr der Inquisitor scheinbar ungerührt fort, »stets blieb doch etwas zurück, das auf mich verwies. Ja, fast schien mir, dass ich, je mehr Spuren ich verwischen wollte, nur noch mehr Spuren legte.
Auch dich ließ ich verfolgen. Von dem Augenblick an, da ich gewahrte, dass du unsere nächtlichen Zusammenkünfte belauschen wolltest. Ich erfuhr von den unzähligen Augen der Inquisition, dass du den Geldwechsler Pietro Datini am Grand Pont aufsuchtest. Wozu, das konnte ich mir denken.
Ich wusste, dass du dich mit Lea, der Tochter des Geldwechslers trafst. Sogar das Buch, das sie dir heimlich gab, studierte ich in deiner Zelle, als du fort warst. Und fort warst du ja oft genug. Wir sahen, wie Jacquette mit dir sprach. Ja, du warst es, der uns wieder auf ihre Spur gebracht hatte, nachdem sie den Sergeanten entflohen war. Eine Zeit lang wusste ich nicht, wo sie sich versteckt hielt, und war sehr beunruhigt darüber. Doch als die Schönfrau zu dir kam, konnte sie uns nicht mehr entkommen.
Und dann war da noch Klara Helmstede. Oh Ranulf, wie gerne hätte ich dich geschont! Deine Sünden, so groß sie auch waren, hätte ich dir nachgesehen. Du hättest gesucht und gesucht und doch nichts gefunden. Doch dann trafst du die Gattin des Reeders - jenes Mannes, der in unserem Auftrag zum Land der Periöken segeln soll! Oh, ich weiß, es war die Wollust, welche dich in ihre Arme trieb. Doch konnte ich sicher sein, dass es nur das Fleisch war, das dich zu ihr hinzog, und nicht doch auch der Geist? Sprechen Mann und Frau in der Umarmung nicht manchmal Dinge, die sie, sind sie Herren ihrer Sinne, niemals zu äußern wagen würden?
Als du Klara Helmstede trafst, Bruder Ranulf, da warst du im Herzen unserer Verschwörung angelangt. Du wusstest es vielleicht noch nicht, doch wäre es nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis du alles aufgedeckt hättest. Also schlug ich zu - und ließ dich verhaften. Auch wenn es mich schmerzt, als hätte ich einen Sohn in den Kerker geworfen.«
Was hätte ich da erwidern sollen? Dass mich seine Worte schmerzten, als hätte ich, zum zweiten Mal in meinem Leben, meinen Vater verloren? Oder hätte ich den Inquistor gar bedauern sollen? Hätte ich um Vergebung flehen müssen? Hätte ich Verzeihung erbeten können? Ich sagte nichts dergleichen, denn jedes Wort kam mir nun einer Lüge gleich. Es bedeutete nichts mehr.
Meister Philippe sah plötzlich müde aus. »Die ›Kreuz der Trave‹ wird in wenigen Tagen lossegeln«, sagte er, dann erhob er sich und starrte auf mich, der ich auf der Streckbank lag, hinunter. Sein Blick war so kalt, dass mich fröstelte.
»Die Seuche hat den Steuermann Gernot geholt. Das allein schenkt dir ein paar Tage Leben. Denn wir müssen zunächst einen Ersatz für ihn finden. Dann wird die Kogge Paris verlassen und das Land der Periöken ansteuern.
Ich will so wenig Aufsehen wie möglich erregen. Also werde ich dich erst an dem Tag, da die ›Kreuz der Trave‹ Paris verlassen wird, öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Dies wird dem Volk ein großes Schauspiel sein — und niemand wird auf das Schiff achten, wenn es die Seine abwärts segelt. Du hast also noch ein paar Tage Zeit. Lebe wohl. Sammle deine Gedanken, reinige dein Herz und bete!« Mit diesen Worten schlug der Inquisitor das Kreuz über mir, drehte sich um und verließ die Folterkammer, ohne mir noch einmal einen Blick zu schenken.
*
In seiner großen Gnade hatte Philippe de Touloubre darauf verzichtet, mich foltern zu lassen. Ja, er hatte es nicht einmal für nötig erachtet, mich offiziell nach meinen Sünden zu befragen, sodass ich ihm nichts gestehen musste, das im Protokoll für die Ewigkeit verzeichnet worden wäre. Es gab keine Zeugen unserer Unterredung. So unbegreiflich dies klingen mag, ich war traurig darüber, dass mir die Streckbank und die glühenden Zangen erspart geblieben waren, denn ich wollte sterben. Die Folter, so hatte ich gehofft, würde mir die Tür öffnen, um jene Welt aus Blut und Sünde zu verlassen. So aber löste mir der Folterknecht schweigend die Fesseln der Streckbank und stieß mich zurück in meine düstere Zelle. Ich setzte mich dort nieder und haderte mit GOTT.
17
DAS GEHEIMNIS VON NOTRE-DAME
Mit welchen Worten vermag ich die Verzweiflung zu beschreiben, die nun meine Seele in eiserner Klammer hielt, .da ich Stunde um Stunde, Tag um Tag in der finsteren Zelle saß? Allein war ich mit mir und meinen quälenden Gedanken. Hinzu kam, dass Hunger und Durst mich mehr und mehr plagten. Wann mochte das letzte Mal jene Klappe in der Pforte geöffnet worden sein, durch die mir der Folterknecht hartes Brot und einen Krug Wasser gereicht hatte? War es einen Tag her? Oder zwei? Oder gar drei?