Oh, ich Elender. Ich wollte sterben, ja, ich sehnte mich nach der Folter, in der Hoffnung, dass sie mich aus diesem Leben erlösen möge. Doch irgendwann raffte ich mich auf, kroch müde bis zur Zellentür — und schlug mit der Faust dagegen. Ich, der ich eben noch mit meinem irdischen Dasein abgeschlossen hatte, rief um Hilfe und bettelte um Wasser und Brot. Und irgendwann wurde ich erhört.
Ich vernahm seltsam schlurfende, langsame Schritte, die sich meinem Verlies näherten. Mit letzten Kräften hob ich meine Stimme - und schloss dann wieder meinen Mund. Denn nicht die winzige Klappe wurde geöffnet, sondern unendlich langsam, ja mühselig wurde der Schlüssel der Kerkertür gedreht. Dann öffnete sich die Pforte. Ich sah zunächst nicht mehr als einen schwachen Lichtschein. Irgendwo brannte eine Fackel und warf ihr unruhiges Licht durch den unterirdischen Gang. Mochte es Tag oder mochte es Nacht sein? Ich wusste es nicht.
Als sich meine Augen an das flackernde Licht gewöhnt hatten, gewahrte ich einen Schatten am Boden des Ganges: Es war einer der beiden Folterknechte. Nun lag er gekrümmt auf den schimmelüberzogenen Steinen und stöhnte vor Qual. Er war es, der mir mit seiner letzten Kraft die Tür geöffnet hatte.
»Bruder«, flüsterte er mit erstickender Stimme, »habt Erbarmen mit einem armen Sünder! Nehmt mir die Beichte ab, bevor ich sterben muss!«
Ich kniete mich zu ihm, obwohl ich selbst vor Schwäche schwankte. »Was ist geschehen?«, fragte ich.
»Nehmt die Fackel und seht«, flüsterte der Folterknecht. Ich holte die Fackel, die in einem eisernen Ring am Ende des Ganges steckte. Und fürwahr: Als ihr Licht nun auf die bejammernswerte Gestalt fiel, da musste er mir nichts mehr erklären: Beulen und aufgeplatzte Schwären überzogen sein Gesicht und seinen Leib. Er blutete aus wohl drei Dutzend Wunden, selbst aus seinen Augen troff ihm Lebenssaft. Sein Atem, der nur noch stoßweise ging, stank schon nach Verwesung.
»Die Seuche, Bruder«, flüsterte er, »die Seuche holt uns alle.« So blieb ich denn bei ihm, nahm ihm die Beichte ab und sprach ihm Mut und Trost zu, auf dass er mit leichterem Herzen in SEIN Reich gehen möge. GOTT ist mein Zeuge: Ich blieb bei dem sterbenden Folterknecht wohl mehr als eine Stunde lang, bis seine Seele mit einem letzten Seufzer entflohen war.
Dann erhob ich mich, schlug das Kreuz über dem Toten — und blickte mich um. War ich frei?
Vorsichtig schlich ich bis zum Ende des Ganges. Die Folterkammer war leer. Auch auf der Treppe, die ins Licht führte, zeigte sich niemand. Ich sah, dass am Fuße der Stufen ein Verschlag in den Felsen des Untergrundes gehauen war. Es war die Stube der Folterknechte. Einen Krug Wasser sah ich dort, auch etwas Bier, hartes Brot und eine Zwiebel. Gierig schlang ich alles in mich hinein.
Dann, da mit meinen Kräften auch mein Geist zu mir zurückgekommen war, blickte ich mich genauer um. Schließlich entdeckte ich, halb unter Lumpen verborgen, einen eisernen Ring, an dem Schlüssel hingen. Es sah aus, als habe ihn jemand achtlos weggeworfen und dann vergessen.
Ich nahm die Schlüssel und öffnete mit ihnen die nächstgelegene Zellentür.
Das Verlies war leer.
Ich ging zur daneben liegenden Pforte, doch auch diese Zelle war leer. So öffnete ich denn eine nach der anderen. Anfangs hoffte ich noch, dass ich andere Unglückliche befreien möge, doch je mehr leere Verliese ich aufschloss, desto tiefer sank mein Mut. Klara war, wie es Philippe de Touloubre angekündigt hatte, schon längst nicht mehr im Kerker eingesperrt. Erst in der letzten Zelle fand ich einen weiteren Gefangenen. Nechenja ben Isaak.
Ich erkannte den jüdischen Geldwechsler kaum wieder. Zunächst sah ich nur eine gekrümmte Gestalt, die im schmutzigen Stroh lag. Als ich den Mann auf den Rücken drehte, erschrak ich gar sehr. Sein Gesicht war blutig und zerfetzt — ob von den Schlägen der Folterknechte oder von den Bissen der Ratten, die ihn bereits angefressen hatten, vermochte ich nicht zu sagen. Ohne jeden Zweifel jedoch war Nechenja ben Isaak schon seit einigen Tagen tot. Auch über ihm schlug ich das Kreuz, obwohl er doch ein Jude war. Doch ich wusste nun, dass nicht unser Glaube uns zu Sündern oder Heiligen macht, sondern dass es unsere Taten sind, nach denen ER SEIN Urteil über uns sprechen wird. Und Nechenja ben Isaak war kein Sünder gewesen, sondern ein Mann der Gelehrsamkeit und der Demut.
Und er war Leas Vater.
Ein Schauder durchfuhr mich, als ich an das Schicksal der jungen Jüdin dachte. Mochte sie noch leben? Welches Schicksal drohte ihr? Ich durfte keine Zeit mehr verlieren. Also schlich ich eilig die Treppe hoch. Das unterirdische Verlies mochte nun als Gruft dienen für den Geldwechsler und seinen Folterknecht.
Vorsichtig blickte ich mich um, da ich oben ins Freie trat. Es war später Nachmittag. Die Luft war drückend und heiß. Im Westen zog wie eine drohende Wand ein schwarzes Gewitter herauf. Kein Lufthauch regte sich. Nichts war zu hören, nicht einmal Vogelgesang oder das entfernte Bellen eines Hundes. Nie hatte ich die Welt so still erlebt wie in jenem Augenblick.
Bedrohlich war dies, als lauere irgendwo ein schrecklicher Dämon und alle Lebewesen hielten aus Furcht den Atem an, um nur ja nicht das Monster anzulocken.
Vorsichtig setzte ich meine Schritte durch den Klostergarten von Saint-Martin-des-Champs. Unkraut spross zwischen Thymian und Lavendel, Laub lag auf den Wegen. Seit Tagen mochte kein Mönch mehr diesen Garten gepflegt haben. Ich duckte mich und schritt voran. Das leise Knirschen der Kiesel auf dem Weg war das einzige Geräusch im Kloster. Es erschien mir laut zu sein, als würde ich meine Schritte mit Geläut und Fanfaren begleiten. Da hörte ich noch ein Geräusch.
Ein Krachen und Scheppern, dass ich mich fast zu Tode erschreckte. Es war ein Krug oder Teller, der auf einen Steinboden gefallen und zersprungen war, irgendwo in einem der Klostergebäude. Ich war also doch nicht allein.
Rasch legte ich die wenigen Schritte zurück, die mich noch vom Kreuzgang trennten. Hier zwischen den Säulen konnte ich mich besser verbergen als im Garten, der kaum ein Versteck bot. Was mochte mich nun erwarten?
Vorsichtig öffnete ich eine Pforte, die in eine der Mauern des Kreuzganges eingelassen war. Nach wenigen Schritten stand ich in der Küche des Klosters. Niemand war zu sehen, das Feuer im offenen Kamin, der großen Kochstelle, war schon lange erloschen. Ein Laib Brot lag noch auf dem Tisch, doch der war grün und weiß vom Schimmel überzogen. Rasch trat ich zum Kamin und griff nach einem eisernen Schürhaken, den ich in der Hand wog.
Was war nur mit mir geschehen? Ich, der Mönch, der gehorsam und keusch und friedlich zu leben gelobt hatte, war fest entschlossen, mich mit dem Schürhaken zu wehren, sollte mich jemand ergreifen wollen.
Nie wieder würde ich in jenen Kerker gezerrt werden! Eher ließe ich mich im Kampf erschlagen, als dass ich noch einmal das Verlies der Inquisition erdulden wollte.
So bewaffnet und grimmig entschlossen, wie es nur ein Ritter vor einer Schlacht sein kann, verließ ich die Küche wieder und schlich durch die düsteren Fluchten des verlassenen Klosters. Irgendwann glaubte ich, menschliche Stimmen zu hören. Es war ein leises Wehklagen.
Weiter ging ich, Schritt für Schritt auf eine Pforte zu, die letzte am gegenüberliegenden Ende des Kreuzganges. Langsam drückte ich sie mit der Linken auf, Handbreit für Handbreit, derweil ich in der erhobenen Rechten den eisernen Haken hielt wie eine Streitkeule. Doch dann ließ ich meine Waffe wieder sinken. Es gab hier niemanden mehr, der mich hätte bedrohen können. Ich war ins Dormitorium getreten, den Schlafsaal des Klosters. In der Tat lagen hier einige Mönche, doch wusste ich nicht, wer noch lebte und wer schon gestorben war. Wohl zwei Dutzend Männer ruhten auf dreckigem Stroh, auf ihren Bettstätten oder irgendwo auf dem steinernen Boden, so, als wären sie dort zusammengebrochen. Blut und Kot besudelten die Gewänder der Mönche. Es stank nach Eiter und Exkrementen. Ein Bruder, der große, schwärzliche Flecken auf der Stirn trug, stöhnte auf, als er mich sah, und hob flehentlich die Hand. Er war allerdings nicht mehr kräftig genug, noch etwas zu sagen. Andere krümmten sich vor Schmerzen, doch waren ihre Sinne schon so weit geschwunden, dass sie meiner nicht mehr gewahrten. Wieder andere lagen schrecklich still danieder.