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Doch seltsam: Keinen Wachsoldaten sah ich dort, niemand stand auf der Mauer und hielt Ausschau. Kein Bettler hockte am Wegesrand, kein Händler hatte seinen Karren abgestellt. Ich sah weder Maultiere noch Zugochsen, ja nicht einmal Raben, die doch sonst in Scharen das Gewölbe des Tores umschwirrten. Die massigen Torflügel standen jedoch weit geöffnet. Beklommenen Herzens trat ich hindurch.

Und fürwahr: Die Hölle tat sich mir auf, da ich Paris betrat.

Dixitque ei Iesus sine ut mortui sepeliant mortuos suos tu autem vade adnuntia regnum DEI.

Das Erste, was mir auffiel, war die Stille, als ich die Stadt betrat. Keine Stimme vernahm ich, keinen Lärm: keine Flüche, kein Gesang, keine Rufe der Marktweiber, kein Spiel der Vaganten, kein Gekreisch der Kinder; keine rumpelnden, eisenbeschlagenen Räder auf dem Pflaster, kein Hufgeklapper, kein Glockenläuten. Nur das Flattern von Taubenflügeln hallte durch die Stadt - und das Gesumm unzähliger Fliegen.

In dicken, dunklen Wolken standen sie über den Toten, die allerorten auf der Straße lagen. Ich erblickte Männer und Frauen, Kinder und Greise, manchen Edelmann, viele Bürger und Bauern, einige Bettler, auch einen Arzt in seiner prächtigen Kleidung und zwei Franziskaner. Manche waren mitten auf dem Weg hingesunken, das Gesicht schwarz wie Kohle, als hätte sie der Tod in einem einzigen Augenblick umgemäht wie der Sensenmann das Gras. Andere waren in der Bäckerei oder in der Schmiede zu Boden gegangen und nie wieder aufgestanden. Wieder andere fand ich, die hatten sich an Hauswände gekrümmt oder an die Pforten der Häuser gekrallt — so, als hätten sie mit der Kraft ihrer letzten Atemzüge verzweifelt versucht, sich in die Gebäude zu retten.

Doch wer hätte ihnen dort noch öffnen sollen? Aus den offen stehenden Fenstern so mancher Bürgerhäuser entquollen Wolken unzähliger Fliegen — und wie es in den Zimmern aussah, aus denen sie kamen, das wollte ich nicht wissen.

Schwer drohte ein Gewitter. Es stank nach Tod und Fäulnis und süßlicher Verwesung, dass es einem den Atem raubte. Zudem mussten irgendwo in der Stadt kleine Brände wüten, denn ich sah dunkle, grauschwarze Qualmwolken und feine Asche langsam durch die stickige Luft der Gassen ziehen.

So schlug ich mir denn einen Zipfel der Kapuze meiner Kutte, die in den langen Tagen im Kerker beschmutzt und zerrissen worden war, quer über den Mund, damit ich nicht gar so viele schädliche Miasmen einatmen musste. Dann ging ich weiter Richtung Seine. Doch wie kann ich mein Entsetzen beschreiben, da plötzlich einer der Toten den Arm nach mir reckte?

Es war ein Mann, ein Bettler, der gar nicht tot war, zumindest noch nicht ganz. Der Unglückliche lag in seinen schwärzlichen, fauligen Ausscheidungen; Beulen überwucherten sein Gesicht. Fliegen hatten sich schon wie ein schrecklicher Schleier auf seinem Kopf niedergelassen. Nun, da er mit letzter Kraft den Kopf hob, flogen sie auf und umschwirrten ihn mit wütendem Gesumm. Langsam kroch der Kranke auf mich zu, die Rechte hatte er wie eine Klaue erhoben. Er stöhnte vor Schmerzen, vermochte jedoch kein Wort mehr über seine blutigen Lippen zu bringen. So flehte er mich stumm an, irgendetwas für ihn zu tun.

Doch was hätte ich noch zu tun vermocht? Wäre ich bei ihm geblieben, wäre ich bei jedem Sterbenden geblieben, ich wäre wohl nie an mein Ziel gelangt. So wandte ich mich schaudernd ab — und rannte die Straße hinunter, so schnell ich konnte.

Ich werde mich dafür schämen bis an das Ende meiner Tage, doch weiß ich zugleich, dass es richtig war, was ich getan habe. Denn nicht den Sterbenden durfte an jenem Tag meine Sorge gelten, sondern den Lebenden.

Bald gewahrte ich, dass ich doch nicht der einzige Mensch war, der sich noch auf seinen Beinen halten konnte. Hinter manchen Fenstern sah ich Schatten und misstrauische Augen, die mir folgten; Fensterläden wurden plötzlich zugeschlagen, als ich mich näherte, ich hörte, wie sich in der Türe eines Bürgerhauses leise quietschend der Schlüssel im Schloss drehte.

Dann sah ich in den düsteren Seitengassen Schatten: verhüllte Gestalten, ob Mann oder Weib war schwer zu unterscheiden, welche die Türen der Gebäude aufbrachen und Leuchter, Teppiche und silbernes Besteck davonschleppten. Andere Schatten beugten sich gar über die entstellten Toten und Sterbenden und raubten sie aus. Diese Verbrecher! Diese Narren! Was wollten sie kaufen mit all dem Gold und Silber? Sicherheit vor dem Schwarzen Tod? Die gab es nicht einmal im Königspalast! Vergebung ihrer Sünden? Als ob der Teufel sich von irdischen Schätzen bestechen ließe! So gaben sie denn für den Reichtum einer Stunde ihr ewiges Leben dahin. Ich war schon ein gutes Stück meines grausigen Weges vorangekommen, da hielt ich plötzlich inne. Musik.

Ich glaubte, dass Satan meinen Sinnen einen Streich spielen wollte, doch als ich leise weiterschlich, da vernahm ich, je näher ich der Seine kam, desto deutlicher, die Töne einer Schalmei. Dazu spielte eine Laute und jemand schlug eine Trommel in einem wilden Takt. Kein Chor war dies, kein frommer Hymnus, sondern die Melodie von Menschen, die zum Tanz aufspielen.

Ich weiß nicht, warum es so war, vielleicht war es eine Vorahnung: Diese fröhlichen Weisen jedenfalls versetzten mich in noch größere Angst als die tödliche Stille zuvor.

Vorsichtig wagte ich mich weiter, Schritt für Schritt — bis ich zu jener Ecke kam, da sich die Straße auf die Place de Greve hin öffnete. Dort tanzten Menschen, wohl etliche Hundert an der Zahl. Auf dem Platz hatten sie aus zerschlagenen Truhen und Tischen, aus herausgerissenen Türen und Fensterläden einen Scheiterhaufen aufgeschichtet, der lichterloh brannte. Daneben waren große Weinfässer herangerollt worden, die aufgebrochen waren, sodass der Rebensaft aus ihnen quoll wie Blut. Im wilden roten Schein der Flammen, nur ein paar Schritte von diesen entfernt, erglänzten die goldüberzogenen Schnitzereien eines prachtvollen Altares, den verbrecherische Hände aus einer der nahe gelegenen Kirchen gezerrt haben mussten. Auf dem Altar stand ein halbes Dutzend Vaganten. Sie waren es, die jene lustige, schnelle Weise spielten, die ich vernommen hatte. Um das Feuer und die Musiker auf ihrer blasphemischen Bühne tanzten Männer und Weiber in einem wilden Reigen. Die meisten waren nackt, kein Fetzen Stoff bedeckte ihre Blöße. Sie schrieen und jauchzten wie Bauern auf einem Dorffest und riefen einander mit derben Schimpfworten. Männer fassten Frauen, sogar Frauen fassten Männer schamlos an, dass ich es nicht zu beschreiben wage. Hin und wieder sanken zwei nieder und erkannten sich fleischlich, mitten auf dem Platz und umgeben von den Tänzern. Niemand wandte sich ab, sondern ein jeder schrie den Schamlosen, die sich am Boden wälzten, wohl noch Ermunterungen zu. So mancher erhob sich danach wieder und tanzte weiter, als sei nichts gewesen, lachend und trinkend aus den aufgebrochenen Fässern. Andere blieben am Boden liegen, ob vor Erschöpfung oder weil die Krankheit sie im Liebesspiel geholt hatte, das vermochte ich nicht zu sagen — die Tänzer jedenfalls bekümmerte dies nicht.

Schrecklicher noch als diese schamlose Unzucht, ja selbst als die Entweihung einer Kirche erschien mir der Schmuck mancher Tänzer: Mit Farbe hatten sie sich rote und schwarze Flecken auf die Haut gemalt. Einige trugen Masken aus Stroh oder Stoff, die zerfressene Gesichter darstellen sollten. Wer vermochte da noch zu sagen, welches Krankenmal noch mit Farbe aufgetragen war - und welches bereits echt war?

So groß war mein Entsetzen über dieses Schauspiel, dass ich mich für ein, zwei Augenblicke nicht von diesem Anblick losreißen konnte. Und wer weiß, wie lange ich wohl noch am Rand der Place de Greve gestanden hätte, wäre nicht eine Frau vor meinen Augen aufgetaucht, so plötzlich, als sei ein Dämon vor mir aus dem Boden gefahren.

»Mönchlein, tanz mit mir!«, rief sie mir zu und lachte irre. Die Frau war nicht mehr jung, doch selbst in ihrer Wirrnis erkannte ich, dass ihr dunkles Haar vor noch nicht allzu langer Zeit wohlgepflegt und in kunstvollen Locken gelegt gewesen sein musste. Sie war nackt, ihre Haut glänzte vor Schweiß, doch waren ihre Hände fein, sie war makellos - bis auf die grellroten Male, die sie sich auf das Gesicht, auf ihre Arme und Brüste gemalt hatte. Ich wich zurück und schlug das Kreuz.