Da lachte sie jedoch nur noch lauter. »Mönchlein«, kreischte sie, »dich will ich nicht nur tanzen lehren! Du sollst der dritte Mann sein, den ich heute bezwingen werde!«
Da riss ich mich aus ihrem Griff los und floh vor ihrem wilden Gelächter.
So groß war meine Furcht, dass ich mich nicht einmal umzusehen wagte. Ich rannte und rannte, als wäre ein Dämon hinter mir her - und das war vielleicht ja auch die Wahrheit.
Weder nach links noch nach rechts blickte ich. Wie blind stolperte ich auf den Grand Pont, hastete an den verschlossenen Häusern der Geldwechsler vorüber und taumelte, am Ende meiner Kraft, auf die Insel in der Seine. Düster wie eine Zwingburg ragte Notre-Dame vor mir auf.
Ich rang nach Atem, dann schleppte ich mich zum Haus des Nechenja ben Isaak im Judenviertel nördlich der Kathedrale.
Die Tür des Gebäudes war zerschlagen; der untere Teil der Pforte hing noch schief in einer Angel, der obere lag zersplittert auf der Gasse. Die Fenster waren eingeschlagen, ein zerschnittener Vorhang bewegte sich träge im Windhauch, der von der Seine her herüberwehte. Ich hob den Schürhaken und schlich hinein.
Halb hatte ich erwartet, hier auf Schattengestalten zu treffen, doch war ich ein Narr, denn die Sergeanten und die Inquisitoren hatten das Haus ja schon zuvor geplündert, sodass es hier nichts mehr zu holen gab. Und was nicht weggeschleppt worden war, das hatten sündige Hände zerstört. Ich musste Acht geben, dass ich nicht auf zerfetzten Teppichen ins Taumeln geriet oder mich an den Splittern zerschlagener Truhen und Tische verletzte.
So bewegte ich mich vorsichtig durch das leere Heim. Als ich in die Bibliothek kam, hätte ich sie kaum wiedererkannt. Denn hier, wo allein die Inquisitoren zugegen gewesen waren, fand ich keine Spur von Gewalt. Und auch keine Spur von irgendetwas sonst: Alles war verschwunden: Bücher, Pergamentrollen, Bücherkisten, Schreibpulte, Federn, Tintenfässer — nichts, nicht ein Staubkorn, war mehr in diesem Raum.
Es war, als hätte es die große Bibliothek des Nechenja ben Isaak nie gegeben.
Ich ging über die Stiege ins nächste Geschoss. Auch hier waren die Zimmer verwüstet und ihrer wertvollen Einrichtung beraubt worden. Ich stolperte an zerschlagenen Betten und Truhen vorbei. Endlich, da ich glaubte, dass kein Plünderer mehr im Hause sei, wagte ich es, nach Lea zu rufen. Laut rief ich ihren Namen, wohl ein Dutzend Mal. Ich sagte auch, wer ich sei, dann lauschte ich, ob ich irgendwo eine Antwort oder wenigstens ein verräterisches Geräusch hören mochte. Vergebens.
Enttäuscht schritt ich die Stiege wieder hinunter. Ich war schon an der Tür, als ich plötzlich eine leise Stimme flehen hörte: »Bruder Ranulf, bleibt!«
Eine versteckte Tür unterhalb der Stiege schwang auf - und Lea trat heraus.
Da vergaß ich meine mönchische Würde und meine Pflicht als Christenmensch - und stürzte der jungen Jüdin entgegen und schloss sie in die Arme.
»Wie bin ich glücklich, Euch zu sehen!«, rief ich.
»Und ich nicht minder«, erwiderte Lea und auch sie schloss mich in die Arme.
Dann berichtete sie mir mit wenigen, hastigen Worten, dass ihr an jenem Tag, da ich die Sergeanten vor dem Haus des Wollhändlers abgelenkt hatte, tatsächlich die Flucht gelungen war. Sie hatte sich zwei Tage am Ufer der Seine zwischen den Stapeln der Stoffballen und der leeren Kisten für die Schiffe versteckt, was leicht war, da dort niemand mehr Fracht ablud.
»Doch dann wurde es so schrecklich auf den Straßen, dass mir graute«, fuhr sie fort. »In einem fort starben die Menschen. Manche sanken nur ein paar Schritte vor den Kisten nieder, hinter denen ich mich verbarg. Und schlimmer noch als die Sterbenden waren die Lebenden.«
Ich dachte an das, was ich soeben gesehen hatte, nickte und legte ihr die Hand auf die Lippen. »Sprecht nicht darüber«, bat ich. »Ich schlich mich am zweiten Abend zum Haus meines Vaters zurück, da ich nicht wusste, wohin ich mich wenden sollte. Von Euch, Bruder Ranulf hatte ich doch nichts mehr gehört. Ich dachte, Ihr würdet auf dem Scheiterhaufen enden!« Sie drückte meine Hand. »Ich sah, dass die Sergeanten genug mit den Toten zu tun hatten, denn anfangs bemühten sie sich noch, jedes Opfer zum Friedhof zu tragen«, fuhr sie fort. »Später jedoch sah ich keinen Sergeanten mehr. Also glaubte ich mich im Haus meines Vaters sicher. Das war ich auch. Hier fand ich altes Brot und ein paar getrocknete Datteln, die niemand mitgenommen hatte. Während der Gewitter jener Tage schöpfte ich Regenwasser vom Dach in einen Krug, den ich aus der Küche geborgen hatte.
Seither verstecke ich mich, denn ich wage mich nicht mehr heraus.«
Sie machte eine kleine Pause, dann sah sie mich aufmerksam an. »Habt Ihr etwas von meinem Vater gehört?«
Sollte ich sie anlügen? Sollte ich ihr die Wahrheit sagen? Während ich mich für einen Augenblick mit diesen Fragen quälte, hatte mich mein Blick schon verraten.
»Er ist tot«, flüsterte Lea tonlos.
Da nahm ich sie wieder in den Arm und erzählte ihr von meinen Tagen im Kerker und davon, wie ich die Freiheit erlangte und dabei zufällig ihren toten Vater entdeckte. In welchem Zustand ich ihn angetroffen hatte, das allein verschwieg ich ihr.
Sie weinte vor Kummer eine lange Zeit und ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte.
»Wie viele Tage habt Ihr Euch versteckt?«, fragte ich schließlich, da ich sie auf andere Gedanken bringen wollte. Zudem war diese Frage lebenswichtig. »Welcher Tag ist heute?«
Lea sah mich verwundert an. »Wenn ich richtig gezählt habe«, antwortete sie zögernd, »dann ist heute der Tag, den ihr Christen Sankt Bartholomaeus geweiht habt. Doch welche Bedeutung hat das noch, da uns auch Heilige nicht mehr beistehen können?«
»Sankt Bartholomaeus?«, rief ich da entsetzt. »Aber dann sind seit Mariae Himmelfahrt schon neun Tage vergangen! Neun Tage habe ich verloren im Kerker! Oh HERR, lass mich nicht zu spät kommen!« Lea blickte mich an. »Wohin wollt Ihr denn noch fliehen, Bruder Ranulf? Der Schwarze Tod ist überall.«
»Ich will nicht fliehen«, erwiderte ich darauf, »ich will mich stellen. Und nicht die Seuche fürchte ich, sondern die Menschen.« Da ich nun keinen Grund mehr sah, ihr irgendetwas zu verheimlichen, berichtete ich ihr von der Verschwörung der Inquisition und wie sie so viele Menschen in Tod und Verderben gestürzt und so viele Bücher der Vernichtung anheimgegeben hatte.
»Darum also musste mein Vater sterben«, sagte Lea und ihre Augen blitzten vor Zorn.
»Und es wird noch viel Unglück über die Menschen kommen, wenn wir die Verschwörer nicht aufhalten«, antwortete ich. »Aber wo sollen wir sie suchen?«
»Da, wo sie den Schatz der Templer versteckt halten«, rief ich. »Gold und Silber sind schwer. Wenn der Schatz wahrhaftig so gewaltig ist, wie man sich allerorten zuflüstert, dann bedarf es vieler Träger, um die Truhen zu bewegen, in denen er verborgen sein muss. Doch nun, da die Seuche unzählige Menschen dahingerafft hat und viele andere so von Sinnen sind, dass sie sogar Kirchen entweihen, werden die Inquisitoren kaum noch zuverlässige Träger finden können. Hast du noch einen Sergeanten gesehen? Oder einen Priester? Oder einen Mönch? Nein, die sind alle tot oder geflohen. Wenn wir also überhaupt noch eine Möglichkeit haben, Meister Philippe und seine Mitstreiter zu stellen, dann dort, wo sie den Schatz verborgen haben.«
»Und Ihr kennt das Versteck?«
»Der Inquisitor selbst hat es mir verraten!«, rief ich triumphierend. »Wiewohl er sich dessen nicht bewusst war. Denn er sagte zu mir über den Schatz: ›Dort ruht er noch heute an einem verborgenen Ort. Allen sichtbar und dem Himmel so nah wie nirgendwo sonst und doch unsichtbar für die Augen der Uneingeweihten.‹ Allen sichtbar und dem Himmel so nah wie nirgendwo sonst — welcher andere Ort könnte das sein, wenn nicht die Kathedrale Notre-Dame?«