»Wir wandeln auf Wegen, die uns nirgendwohin führen«, sagte Philippe de Touloubre grimmig.
»Wir werden neue Wege suchen müssen«, fuhr er nach einer gedankenvollen Pause fort. »Und diese Wege, fürchte ich, mein junger Freund, werden uns in den Schlamm und in den Bodensatz von Paris führen.«
*
Meister Philippe führte mich zur Kammer des Portarius, der offensichtlich vom Inquisitor schon einige Anweisungen erhalten hatte. Der alte Mönch verneigte sich nur stumm, fragte nicht nach unserem Begehr, und reichte uns zwei weite, zerschlissene Umhänge von unbestimmbarer Farbe.
»Es ist nicht gerade der Mönchshabit«, sagte Meister Philippe schmunzelnd, »doch auch nicht wirklich verboten. Die Regel erlaubt uns ja, uns bei schlechtem Wetter angemessen zu schützen.« Ich tat es dem Inquisitor nach und warf mir den Umhang über. Er roch nach nasser Wolle und verbarg mein Skapulier fast vollständig. Zog ich die Kapuze hoch, dann war auch meine Tonsur nicht mehr zu sehen. Wer genau hinsah, der konnte in uns immer noch die Dominikaner erkennen. Doch im Gedränge der Straßen mochten wir auf den ersten Blick wie Bauern in schweren Umhängen aussehen und nicht weiter auffallen.
Als wir das Kloster verließen, bemerkte ich, wie nass und kalt das Wetter tatsächlich war. Zwar hatte ich die Feuchtigkeit in der Luft schon gespürt, doch nun blickte ich die Rue Saint-Jacques entlang — und konnte kaum ein paar Schritte weit sehen: Grauer Nebel stand zwischen den Häusern, als hätte sich Paris über Nacht in einen Sumpf verwandelt, aus dem verhängnisvolle Dämpfe aufstiegen. Die Häuser glichen schwärzlichen Felsen zu beiden Seiten, die Menschen hatten sich gegen die klamme Kälte eingehüllt und wirkten wie Gespenster, die durch das Schattenreich gleiten.
»Niemand wird uns erkennen«, sagte Meister Philippe mit grimmiger Befriedigung und schritt weit aus. Er sagte mir nicht, wohin unser Weg führte, doch erkannte ich, dass wir die Straße hinab Richtung Seine gingen. Schon nach kurzer Zeit mussten wir unser Tempo allerdings zügeln, denn das Pflaster war nass und rutschig. Jeder Atemzug fiel uns schwer. Die Luft stank nach fauligen, nassen Abfällen und nach rußigem Qualm, der in diesem Nebel nicht abziehen konnte. Ich trat auf etwas Weiches - und schauderte. Es war eine tote Ratte, die Schnauze voller Blut. Hastig trat ich sie mit der Sohle meiner Sandale beiseite.
Der Nebel und der dicke Stoff meiner hochgeschlagenen Kapuze dämmten die Geräusche, sodass ich die Schritte anderer Menschen nicht hörte, ja kaum das Klappern eisenbeschlagener Karrenräder vernahm. Es war, als folgte ich dem Inquisitor durch die Landschaft eines düsteren Traumes.
Vorsichtig tasteten wir uns voran. Wir mussten auf jeden Schritt achten, damit wir nicht in Schmutz und Unrat traten. Bald schon erblickte ich das nächste verendete Tier und mir war klar, dass ich niemals zuvor so viele tote Ratten in den Straßen von Paris — oder irgendeiner anderen Stadt — gesehen hatte. Ich fragte mich, welcher Anblick sich mir wohl böte, gäbe es den Nebel nicht. Würde ich Hunderte toter Ratten erblicken? Oder war es vielmehr der Nebel, der die Tiere aus ihren Verstecken und ins Verderben lockte? Auch wenn die verendeten Tiere keinen schönen Anblick boten, so dankte ich doch im Gehen dem HERRN dafür, dass er zumindest diese Plage von Paris linderte.
Wir überquerten zögernden Schrittes die Seine auf dem Petit Pont, dann gingen wir über die Insel — die Türme von Notre-Dame waren nicht mehr zu erkennen - und schließlich ließen wir auch den Grand Pont hinter uns.
Am jenseitigen Ufer führte mich Meister Philippe durch ein Gewirr verwinkelter Gassen. Bald schon wusste ich nicht mehr, wo ich war, und ich bezweifelte, dass ich selbst dann, wenn sich der Nebel lichten würde, meine Orientierung wiedergefunden hätte. Schließlich gelangten wir in eine Straße, die mir noch enger, düsterer, schmutziger und lauter erschien als die anderen. Es stank nach beißendem Qualm und Schwefel. Und von überall her erscholl ein düsteres Dröhnen und Hämmern. Ich bekreuzigte mich hastig. Für einen Moment glaubte ich, dass mich der Inquisitor geradewegs in den Schlund der Hölle geführt hätte und ich mich nun im feurigen Reich des Antichristen befand.
»Wir sind in der Rue Ferroniere«, sagte Meister Philippe über den Lärm hinweg. »In der Straße der Schmiede.«
Er trat in eine Werkstatt - und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Verwundert und ein wenig eingeschüchtert blickte ich mich um: In der Mitte des lang gestreckten, doch niedrigen Raumes loderte eine große Feuerstelle, deren Holzkohlen glühten wie Satans tausend Augen. Es war heiß und stickig - und laut: Zwei halbnackte Gesellen hoben und senkten die Stange eines großen ledernen Blasebalges. Ein gewaltiger Schmied stand nah am Feuer, holte mit einer Zange in der Linken ein glühendes Stück Eisen aus den Kohlen, hob es rasch auf einen Amboss und schlug es mit einem gewaltigen Hammer zu einem Kreis — möglicherweise dem Ring eines Wagenrades, doch sicher war ich mir nicht.
Meister Philippe warf den Mantel ab. Die beiden Gesellen, die uns im Pandämonium ihrer Werkstatt bis dahin nicht bemerkt hatten, blickten zufällig auf, erkannten den Mönchshabit und hielten erschrocken in ihrer Arbeit inne. Dies wiederum weckte die Aufmerksamkeit des Schmiedes.
Als er uns sah, glaubte ich, dass sein Gesicht, obwohl es von Hitze und Anstrengung gerötet war, doch alle Farbe verlor. Der Schmied sagte etwas zu den beiden Gesellen, das ich nicht verstehen konnte. Dann warf er das noch immer glühende Werkstück in einen großen Zuber mir Wasser, wo es zischend unterging. Er legte die Zange beiseite und bedeutete uns mit einer Geste, ihm in eine Kammer am rückseitigen Ende der Werkstatt zu folgen. Es beunruhigte mich, dass er seinen schweren Hammer in der Faust behielt.
Der Schmied war sicherlich schon fünfzig Jahre alt, doch ein Hüne, dessen Arme und dessen Brust, ja dessen Rücken sogar so dicht mit dunklem Haar bedeckt waren, dass er beinahe aussah, als habe er ein Fell. Lange, gezackte Narben verunstalteten seinen kräftigen Rücken und auch die Hände zeigten Spuren längst verheilter, doch einst sicherlich äußerst schmerzhafter Misshandlungen. Seine Augen waren so grau wie der Nebel draußen.
»Dies ist Guibert, der Schmied«, sagte Philippe de Touloubre, als wir endlich in der kleinen Kammer standen.
»Meister Philippe«, brummte der Hüne und neigte demütig seinen Kopf, dann grüßte er auch mich. Der Inquisitor hielt es nicht für nötig, meinen Namen zu nennen, und so schwieg ich und neigte nur leicht das Haupt.
»Guibert«, fuhr Meister Philippe mir zugewandt fort, als könne der Schmied uns gar nicht hören, »fertigt nicht nur Wagenbeschläge und Haken. Seinem glühenden Feuer entspringen auch Spieße, Dolche und Schwerter. Nicht unbedingt die Waffen, welche die edlen Ritter Frankreichs führen. Seine Kunstfertigkeit wird eher von den Schlägern und Tavernenwirten, den Räubern und Vaganten geschätzt.«
»Ich habe nichts Unrechtes getan«, brummte Guibert. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und ich vermutete, dass sie nicht länger von der Hitze der Schmiede verursacht wurden.
»Du hast einst sehr wohl Unrecht getan«, korrigierte ihn der Inquisitor in scharfem Tonfall, »doch wollen wir hoffen und beten, dass dies heute nicht mehr so ist.«
Der Schmied schlug unbeholfen das Kreuz. »Womit kann ich Euch dienen, Meister Philippe?«, stammelte er. Ich fragte mich im Stillen, was dieses Unrecht gewesen sein mochte, an das ihn der Inquisitor erinnert hatte. Ich hoffte, dass es nicht eine im Jähzorn verübte Gewalttat gewesen war und starrte besorgt auf den schweren Hammer in seiner Faust.
»Hat einer deiner Kunden in den letzten Tagen etwas von einem toten Mönch erzählt?«, fragte Meister Philippe rundheraus. Guiberts Gesicht wurde grau. »Ich habe davon gehört«, murmelte er. »Der tote Bruder von Notre-Dame. Jeder weiß davon. Viele sagen, ein Fluch liegt über Paris und die Hölle wird sich auftun, wenn dieses Unrecht nicht gesühnt wird.«