Honore hob seine schwärzliche Rechte - und wunderbarerweise kehrte fast klösterliche Stille ein an diesem sündigen Ort. Ich wand mich in Seelenqualen, auch wenn ich mich bemühte, mein Äußeres unbewegt zu halten. Fabliaux, das immerhin wusste selbst ein Mönch wie ich, waren lästerliche Geschichten. Es ziemte sich nicht für einen Mann GOTTES, ihnen zu lauschen. Doch was hätte ich tun sollen? Ich murmelte ein Gebet und erflehte SEINE Vergebung, doch bewegte ich dabei kaum die Lippen und sprach so leise, dass nicht einmal Meister Philippe neben mir ein Wort vernahm. Honore stand schwankend auf dem Tisch und einen Moment befürchtete — oder erhoffte — ich, dass er hinunterfallen könnte. Er kratzte sich mit seinen Klauenhänden die brennende Haut, sah uns mit irrem Blick an — und begann dann zu erzählen. Ich vermag seine Worte kaum wiederzugeben. Doch — ich gestehe es zu meiner Schande — ich lauschte jedem seiner Sätze, als wären sie eine Predigt. Seine Stimme war leise, ja sanft, als spräche er beruhigend zu einem Kind. Jedermann konnte sehen, dass sein Geist nicht bei ihm war — und dass etwas Anderes, Höheres aus ihm sprach. Honore hub unvermittelt an, ohne Begrüßung, ohne Einleitung, so, als hätte er irgendwann einmal seinen Monolog unterbrochen und würde ihn nun einfach fortsetzen.
Er erzählte vom Fluch der Templer, der den König hinweggerafft habe und seine Familie bis hinein ins siebte Glied. Den Papst dazu. Und nun auch die Stadt Paris und ihre Bürger. Denn, und hier hob er etwas die Stimme, großes Ungemach drohe uns allen. Ich vernahm aus seinem Munde, dass Menschen in Sizilien starben wie die Fliegen, im Hafen von Messina, wo eine Galeere eingelaufen war mit sterbenden Männern an Bord, ein Totenschiff, so wahr uns GOTT helfe. Auch in Rom, das vom Papst verlassen sei, habe nun der Tod die Herrschaft übernommen. Genauso wie in Avignon, wohin der Herr der Kirche sich unrechtmäßigerweise zurückgezogen habe. Und nun komme das Sterben näher, jeden Tag ein Stück. Auf den Straßen schreite es voran und entlang der großen Flüsse. Ein Geist, ein Gespenst, ein unsichtbares Leichentuch, ein Fluch des HERRN.
Dann, unvermittelt, so als gehöre beides zusammen, erzählte er, wie der Henker von Paris vor einigen Wochen einem Ritter, der eine Jungfrau aus edlem Haus geschändet und erstochen hatte, den Kopf abhauen wollte. Dabei habe der Holzblock, auf den das Schwert niedersauste, bedrohlich hin und her geschwankt — ein böses Omen. Und siehe, kaum eine Woche später habe der Henker selbst im Grabe gelegen. Den Körper des Ritters aber hätten die Armen von Paris, so wie sie es oft mit den Leichen Verurteilter machten, nachts heimlich aus seiner Gruft geholt, Schenkel und Arme abgetrennt und verspeist. Die Burgundischen und die Englischen lägen im Land, der König sei hilflos, die Königin böse — und was sollten die Armen sonst essen? Er hatte diese abscheuliche Geschichte kaum beendet — wir alle lauschten ihm atemlos -, da zählte er die nächsten bösen Omen auf: Ein Blitz habe eingeschlagen in der Kirche des Leprösenhospizes von Saint-Lazare. Mit seinen Klauenhänden bekreuzigte sich Honore — und wir taten es ihm nach.
Dann erzählte Honore plötzlich von einem toten Mönch im Schatten von Notre-Dame - und einem ehrlosen Vaganten, der dahergekommen sei und den Verstorbenen ausgeraubt habe. »So sind selbst im Tode die armen Brüder nicht mehr sicher«, sagte er mit seiner sanften Stimme.
Weiter und weiter gingen seine Geschichten, doch Meister Philippe und ich hörten nicht länger zu. Ich musste mich bezwingen, um nicht erregt aufzuspringen und zu dem Erzähler zu rennen, ihn zu schütteln und dazu zu bringen, uns mehr zu erzählen, alles, was er über den Tod Heinrichs von Lübeck wusste.
Selbst der Inquisitor war blass geworden. »Wir müssen unbedingt wissen, wer dieser Vagant war«, flüsterte er mir zu. »Und woher Honore diese Geschichte hat«, setzte ich ebenso leise hinzu. »Soll ich eilen und einen Sergeanten holen, auf dass er diesen Honore in den Kerker werfe?«, fragte ich eifrig. Doch Meister Philippe schüttelte den Kopf. »Vorerst nicht. Honore ist der Held der Männer hier, sie würden ihn mit Fäusten, Knüppeln und Spießen verteidigen. Du bräuchtest eine Hundertschaft Landsknechte und nicht nur einen Sergeanten, um ihn mit Gewalt fortzuschaffen. Außerdem will ich alles vermeiden, was zusätzliche Aufmerksamkeit auf das tragische Schicksal Heinrichs von Lübeck lenkt. Ich habe eine bessere Idee: Irgendwann wird Honore ermüden und mit seinen Fabliaux aufhören. Und irgendwann wird er die ›Rote Hand‹ verlassen. Und dann«, der Inquisitor lächelte mich plötzlich an, »dann werden du und ich, mein junger Bruder, diesem Geschichtenerzähler folgen, und sei es bis ans Ende der Welt.«
*
Und so war es. Zumindest beinahe, denn wenn wir Honore auch nicht bis ans Ende der Welt folgten, so doch bis in den Vorhof der Hölle.
So unvermittelt, wie er begonnen hatte, so plötzlich endete der Vortrag jenes seltsamen, sündigen Propheten mit dem Feuer im Körper auch. Honore war erschöpft, kletterte schwankend vom Tisch und achtete scheinbar nicht auf die beifälligen Rufe und den nun wieder einsetzenden allgemeinen Lärm, mit dem die Gäste ihn feierten. Irgendjemand reichte ihm einen Krug mit schäumendem Starkbier, den er in einem Zug leerte. Die Kupfermünzen, die man ihm von allen Seiten aufdrängte, steckte er gleichmütig in einen ledernen Beutel an seinem Gürtel. Dann verließ er, halb hinkend, halb schwankend, die »Rote Hand«. »Ihm nach!«, flüsterte mir der Inquisitor zu.
Wir hüllten uns noch enger in unsere Umhänge und standen eilig auf. Es war nicht leicht, Honore zu folgen. Zwar war sein Gang schleppend, sodass wir uns nicht sehr eilen mussten, doch zogen noch immer Nebelschleier durch die Gassen, die unseren Augen Trugbilder und Täuschungen vorgaukelten, Schemen, Geister und verlorene Seelen.
Honore wankte durch die Gassen, bis er die große Rue Saint-Denis erreichte, auf die er stadtauswärts einbog. Meister Philippe und ich mussten unsere Anstrengungen verdoppeln. Denn hier drängten sich Hunderte gesichtslose, wegen des Nebels dick eingehüllte Gestalten, die alle gleich aussahen.
Wir wagten nicht, mehr als ein paar Schritte Abstand zu Honore zu halten, aus Angst, ihn aus den Augen zu verlieren. Ich flehte den HERRN an, dass der Mann sich nicht plötzlich umdrehen und uns bemerken würde. Was hätten wir dann getan? Ihn ergriffen? Mich schauderte bei dem Gedanken, die vom Antoniusfeuer verbrannte Hand, die schwärzlichen Klauen berühren zu müssen. Doch wenigstens dieses Mal erhörte GOTT meine Gebete. Honore schritt langsam die Rue Saint-Denis hinunter, bis er an das gleichnamige Tor kam. Ohne zu zögern ging er weiter — und wir folgten ihm auf der Landstraße, hinaus aus Paris.
»Ich glaube, ich weiß, wohin er will«, flüsterte mir der Inquisitor zu. »Du wirst deine Seele wappnen müssen vor dem Anblick der Finsternis«, warnte er mich.
Es verging wohl eine halbe Stunde - der Nebel beschränkte nicht nur meine Sicht, er schien auf eine seltsame Art auch mein Gefühl für die Zeit zu täuschen, sodass ich bis heute nicht sicher bin, wie lange wir Honore nun wirklich über die Straße gefolgt waren —, bis wir den Weiler La Villette erreichten. Und dort erhob sich, zur Linken der Straße, eine Kirche, deren Kreuz auf der Turmspitze grotesk verbogen war. Das Haus GOTTES war von einer hohen Mauer umwallt, über deren Krone ich nur die Dächer zweier weiterer, lang gestreckter Gebäude erkennen konnte. »Das Leprösenhospiz«, flüsterte ich.
Meister Philippe nickte düster. »Die Mönche von Saint-Lazare nehmen sich der Aussätzigen an — und all jener, denen der HERR schreckliche Spuren in den Körper gegraben hat. Wer Aussatz hat, der darf das Geviert der Mauern niemals mehr verlassen. Doch die anderen können sich frei bewegen. Es überrascht mich nicht, dass ein Mann wie Honore hier Unterschlupf findet. Saint-Lazare ist weithin bekannt dafür, dass die Gebete, die in seiner Kirche gesprochen werden, das Antoniusfeuer manchmal zu heilen vermögen.« Ich blickte auf den Kirchturm, der noch vom Blitzschlag gezeichnet war - so, wie es uns Honore erst vor kurzem erzählt hatte. Dann schlug ich das Kreuz.