»Er mag wohl in den Zwanzigern sein. Er ist ein Feuerschlucker, spielt die Schalmei - und er öffnet mit geschickten Händen auch die bestverschnürte Tasche, ohne dass deren Besitzer es merkt.«
»Wo finden wir ihn?«, fragte Meister Philippe. Honore zuckte die Achseln, dann hob er seine Klauenhand zum Schwur. »Das weiß ich nicht, bei den Seelen meiner Kinder, Herr. Er soll in Paris sein, doch ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.«
»Woher weißt du denn, dass er es war, der sich an unserem Mitbruder zu schaffen machte?«
»Ein Spielmann hat es mir erzählt, gestern, in der ›Roten Hand‹. Der will es von Pierre de Grande-Rue selbst gehört haben, als dieser zu viel Burgunder getrunken hatte. Da habe er geprahlt, er hätte sogar die Taschen eines Dominikaners geöffnet — auch wenn sich dieser nicht mehr wehren konnte.«
»Was hat er ihm geraubt?«, fragte der Inquisitor.
Honore schüttelte den Kopf. »Was weiß ich? Was kann man einem Mönch schon stehlen? Geld? Ich weiß es nicht, Ihr wisst es besser, Herr.«
Meister Philippe überhörte diesen Anwurf. »Wie sieht er aus, dieser Spielmann und Halunke?«
»Pierre de Grande-Rue ist groß wie ein Bär, breit wie ein Fass und rothaarig wie ein Fuchs«, sagte Honore. »Ihr könntet ihn unter einer Menge von tausend Menschen auf dem großen Platz vor Notre-Dame erkennen.«
Meister Philippe überdachte, was er soeben vernommen hatte. Honore beobachtete ihn ängstlich; sein schmutziges Wams war an Brust und Bauch dunkel von seinem Speichel, der ihm noch immer unablässig aus dem Mund tropfte.
»Du wirst zur Buße für dein loses Gerede und deine Respektlosigkeit zehn PATER noster beten«, bestimmte schließlich der Inquisitor. »Und du wirst die Mauern von Saint-Lazare einen Monat nicht verlassen, es sei denn, ich lasse dich rufen.«
Honore nickte eifrig. Er war erleichtert, dass ihm nichts Schlimmeres widerfahren war.
Wir hatten uns schon abgewandt und waren beinahe auf der Straße, als Meister Philippe sich noch einmal zu ihm umdrehte. »Und du wirst nie wieder Fabliaux erzählen. Schon gar keine, in denen von einem toten Mönch berichtet wird. Solltest du mir nicht gehorchen, dann wirst du auf dem Scheiterhaufen brennen.«
*
Es dauerte wohl zwei Stunden oder mehr, bis wir zu unserem nächsten Ziel gelangten. Die ganze Zeit über schwieg Meister Philippe, sein Gesicht war verschlossen, sein Schritt eilig und energisch. Demütig und gehorsam ging ich eine halbe Mannslänge hinter ihm und ließ ihn allein mit seinen Gedanken.
So eilten wir zurück in die Stadt. Auf der Rue Saint-Denis ging es langsamer voran, denn Karren, Träger und die beladenen Ochsen und Esel der Bauern behinderten unser Fortkommen. An vielen Stellen lagen tote Ratten, ihre Körper von den unzähligen Tritten von Mensch und Tier blutig zerquetscht. Noch schlüpfriger als sonst war deshalb das Pflaster.
Der Nebel wollte sich nicht verziehen, doch waren seine Schleier nun nicht mehr weißlich, sondern grau, ja fast schwarz, denn Rauchfahnen unzähliger Herdfeuer, Backofen und Schmieden waren in den feuchten Schwaden gefangen. Bitter schmeckte die Luft und mühsam ging mein Atem.
Irgendwann bog Meister Philippe nach rechts ab. Ich folgte ihm durch mehrere Gassen, deren Namen ich nicht kannte, bis ich in der Ferne den düsteren Schatten des Louvre erahnen konnte, jener finsteren Burg an der westlichen Stadtmauer, die sich mit mehreren hohen, runden Türmen und mächtigen zinnenbekrönten Wällen wie ein gezackter Felsen am Ufer der Seine in den Himmel reckt. Wieder verließen wir die Stadt. Diesmal durch ein Tor, das ein Stück weit neben dem Louvre in die Mauer eingelassen war. Es kam mir wie ein Unheil verkündendes Omen vor, dass dieses Tor — und die Straße, die hindurch führte — ausgerechnet nach Saint-Honore benannt war. Diesmal jedoch mussten wir den Schutz der Mauer nicht allzu weit hinter uns lassen, denn schon nach wenigen Schritten führte mich Philippe de Touloubre zu einigen Zelten, die abseits des Weges aufgeschlagen waren.
Im Nebel erkannte ich zerschlissene Stoffbahnen, drei Ochsenkarren, die mit schweren Holzkeilen gesichert waren, und deren Zugtiere, die ein Stück weiter auf einer Wiese grasten. Ich sah schmutzige, halbnackte Kinder, die kreischend zwischen den Zelten spielten und Zigeunerinnen und andere liederliche Frauen, die nähten, kochten oder sich in sündigen Gesten das lange Haar bürsteten. »Vaganten«, sagte Meister Philippe. Es war das erste Wort, das er in den vergangenen zwei Stunden an mich gerichtet hatte. Bevor ich etwas erwidern konnte, tauchte aus dem Nebel blitzschnell ein Mann auf, stellte sich breitbeinig in unseren Weg und schwang einen schweren Knüppel.
»Was wollt Ihr hier?«, fragte er. Seine Stimme war tief, sein Dialekt verriet, dass er aus dem Norden Frankreichs kam. Dann erkannte er die Kutten unter unseren Umhängen. Sofort ließ er den Knüppel sinken und stieß einen schrillen Pfiff aus — ob als Warnung an die anderen Vaganten oder um noch versteckten Männern ein Zeichen zu geben, dass sie nicht losschlagen sollten, vermochte ich nicht zu sagen.
»Wo finde ich Pierre de Grande-Rue?«, herrschte Meister Philippe den Mann an.
Wenn dieser überrascht war, dass zwei Dominikaner ohne Erklärung, ja ohne Begrüßung oder Segenswunsch, sondern nur mit harschen Worten nach einem Vaganten verlangten, dann ließ er sich dies nicht anmerken. Der Mann hob und senkte die Schultern, was ich als Geste der Ahnungslosigkeit oder aber auch der Gleichgültigkeit deuten konnte.
»Das weiß ich nicht, Ihr Herren. Bei uns findet Ihr ihn jedenfalls nicht.«
Meister Philippe sah aus, als wollte er im Zorn einen schrecklichen Fluch aussprechen, doch er bezwang sich mühsam. »Ihr seid doch Vaganten. Haust er nicht hier?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Wir sind Spielleute aus Le Mans und ziehen durch Frankreich, so lange ich zurückdenken kann und noch viel länger, denn schon unsere Eltern und deren Eltern sind Spielleute gewesen. Wir spielen die Harfe, die Laute und die Fidel zum Tanz und wohl auch zu geistlichen Festen. Wir haben Hunde und Affen, die tolle Kunststücke vollbringen. Jongleure sind wir, Seiltänzer, Marionettenspieler und Messerwerfer. Aber«, und hier schüttelte der Mann den Kopf, »Bürger von Paris sind wir nicht. Ich habe Pierre de Grande-Rue schon ein paar Mal gesehen, in dieser Stadt und anderswo. Doch ich kenne ihn nicht gut. Er gehört einer anderen Truppe Vaganten an oder vielleicht ist er auch ein Einzelgänger, ich weiß es nicht.«
»Wann hast du ihn zum letzten Mal getroffen?«, fragte der Inquisitor. Der Mann drehte sich halb nach hinten um. »He, Guillaume«, rief er in den Nebel, »wann haben wir das letzte Mal Pierre de Grande-Rue gesehen?«
»Am Ende des Winters«, kam von irgendwoher die Antwort. »Das mag einen Monat her sein oder auch mehr. Wir waren alle in der ›Roten Hand‹. Das große Fest, du weißt schon.«
Der Mann lachte in plötzlich aufkommender Erinnerung. »Ja, in der Tat. Nun, Ihr Herren, verzeiht, dass ich Euch nur so wenig sagen kann.« Er bot nicht an, sich für uns umzuhören.
Meister Philippe nickte. »Messerwerfer gehören auch zu deiner Gruppe, Spielmann?«, fragte er.
Der Mann verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln. »Ja, Herr. Ich bin der beste Messerwerfer hier. Haltet ein kleines Brot hoch und auf zehn Schritte Entfernung und wohl auch auf zwanzig vermag ich den Laib zwischen Euren Fingern zu treffen, ohne Euch die Haut auch nur zu ritzen.«
»Ist dies auch eine Kunstfertigkeit, die Pierre de Grande-Rue beherrscht?«, wollte Meister Philippe wissen.
Jetzt lachte der Vagant. »Und ob! An jenem Tag in der ›Roten Hand‹ traten dreißig Mann zum Messerwerfen an. Es gab einen Krug Burgunder zu gewinnen — und ich schmeckte ihn schon auf meinen Lippen, das darf ich Euch sagen! Doch ich war, wie sich herausstellte, nur der zweitbeste Messerwerfer in der Taverne. Und nun ratet, wer als Einziger mit noch sichererer Hand warf als ich!«