So viele Fragen — und nur eine Sicherheit: Ich würde, auch wenn mich mein schlechtes Gewissen bedrängte, Meister Philippe weder von meinem nächtlichen Abenteuer erzählen noch davon, dass ich Jacquette gesehen hatte. Ich würde diese Ereignisse vorerst für mich behalten, bis ich klarer sah.
*
Als ich zum Morgenmahl ging, quälte mich die Furcht, Meister Philippe könnte mir meine durchwachte Nacht und meine Seelenqualen ansehen. Hätte er mir auch nur eine Frage gestellt - ich hätte es nicht über mich gebracht, ihn anzulügen, sondern auf der Stelle alles gestanden. Doch der Inquisitor kam an jenem Morgen nicht dazu, mich auch nur zu mustern.
Kaum hatten wir uns niedergelassen, bat ihn ein schüchterner Novize hinaus zum Portarius. Meister Philippe bedeutete mir mit einem Nicken, ihm zu folgen. So kamen wir zur Klosterpforte, wo uns einer der beiden Sergeanten erwartete, die uns den Leichnam Heinrichs von Lübeck gezeigt hatten.
Der Mann verbeugte sich würdevoll. Doch selbst mich täuschte er damit nicht, denn ich sah, dass er sein angstvolles Zucken, das ihm über die linke Gesichtshälfte lief, nur unvollständig verbarg. »Wir haben in der ersten Morgenstunde wieder einen Toten im Schatten von Notre-Dame gefunden, Herr«, verkündete der Sergeant. Das blasse Gesicht des Inquisitors wurde noch um eine Spur fahler. »Wer ist es?« Seine Stimme war eisig.
»Es ist der Dekan der Domherren, der ehrwürdige Nicolas d'Orgemont.«
»GOTT sei seiner Seele gnädig«, murmelte ich unwillkürlich. Der Sergeant schlug mechanisch das Kreuz und der Ausdruck nackter Angst stand ihm noch immer im Gesicht. »Der hohe Herr ist zu den Schönfrauen gegangen«, fuhr er mit sichtlichem Unbehagen fort, »dorthin, wo die Dirnen auf Männer warten: zwischen den Streben der Chorkapellen von Notre-Dame. Einige der Mädchen haben ihn gesehen und erkannt, er kommt ja regelmäßig. Er hat sich eine Schönfrau ausgesucht und ist mit ihr in einer Gasse verschwunden, die von der Kathedrale zur Seine führt. Dort habe ich ihn heute Morgen entdeckt. Erstochen. Von der Schönfrau fehlt jede Spur.«
»Weißt du, welche Dirne mit dem Domherrn gegangen ist?«, fragte der Inquisitor. Plötzlich klang seine Stimme müde — so, als ob er die Antwort schon kannte.
Und, wenn ich ehrlich sein muss, auch mich überraschten die nächsten Worte des Sergeanten nicht.
»Es war Jacquette, das Täubchen«, sagte er und schluckte. »So ein Zufall, nicht wahr, Herr?«
»In GOTTES Plan ist kein Platz für den Zufall«, murmelte der Inquisitor düster.
7
DIE TOCHTER DES GELDWECHSLERS
In anderen Zeiten hätte das Volk von Paris sich wohl höchlich um die Ermordung des würdigsten Domherrn von Notre-Dame erregt — doch in diesem Frühjahr verhielt es sich anders. Denn genau an jenem Morgen, da uns der Sergeant den Tod des Nicolas d'Orgemont meldete, zogen wohl hundert ärmliche Flüchtlinge aus Lyon durch die Porte Saint-Jacques in die Stadt. Erschöpft und voller Schrecken erzählten sie allenthalben vom Schwarzen Tod. Großherzige Bürger nahmen sich ihrer an, dazu wir Mönche, die Nonnen der Klöster, die Ratsherren von Paris. Die Neuankömmlinge berichteten, dass in Lyon der Tod herrsche wie nie zuvor. Sie beschrieben eitrige Geschwüre und Beulen, die sich plötzlich auf der Haut zeigten. Die Menschen, so sagten sie uns, begännen zu faulen und stänken nach Verwesung und Tod, noch bevor sie gestorben seien. Leiden müssten sie nicht lange, denn der Schwarze Tod schlug schnell zu. So mancher, der einen Kranken in dessen Haus besucht habe, um ihm Tröstung zuzusprechen, habe die heimtückischen Beulen auf seiner Haut wachsen sehen in einer Zeit, in der man kaum zwei PATER noster sprechen könne. Und noch ehe der Unglückliche sein eigenes Haus wieder erreicht habe, da sei er schon gestorben. Zunächst wollten wir diese Geschichten nicht glauben, doch den Flüchtlingen folgten noch am gleichen Tag weitere aus Toulon und Marseille. Dann kamen sie sogar von den Häfen des Westens, aus Nantes und La Rochelle und Calais, und von Norden, aus Lille und Rouen, und von Osten, aus Strassburg und Basel. Manche wankten geschwächt in die Stadt - sie kamen aus Katalanien und Italien und Flandern und weiß GOTT noch woher. Und sie alle erzählten die gleiche Geschichte.
Mein Herz zitterte, auch wenn ich mir sagte, dass der HERR uns alle prüfen wolle und ich, als Mönch und Inquisitor, doch den Bürgern ein besonderes Vorbild an Standfestigkeit und Vertrauen sein müsse. Ich fühlte mich - und da war ich nicht allein - wie in einer belagerten Stadt. Von überall, so schien es mir, wälzten sich unsichtbare, schreckliche Armeen auf Paris zu.
In Notre-Dame und den anderen Kirchen wurden Messen zelebriert und die Häuser GOTTES waren von Menschen gefüllt wie nie zuvor. Reliquien und Heiligenbilder wurden in Prozessionen durch die Straßen getragen und zu den Klöstern des Umlandes. Überall erschollen die Fürbitten der Menschen zum Himmel. Doch GOTT hatte sich abgewandt und hörte sie nicht.
Zu allem Unglück brach nach dem nebligen, feuchten Mai auch noch eine Maikäferplage über das Land herein. Das braune Getier war plötzlich auf allen Feldern, Wäldern und Wiesen und fraß die Mandel-, Apfel-, Birnen- und Kirschbäume kahl. Die Preise für Obst stiegen ins Unermessliche, sodass sich selbst die Reichen kaum mehr als ein oder zwei verschrumpelte Früchte kaufen konnten. So kam zur Angst auch noch der Hunger nach Paris.
Mit den Flüchtlingen kamen auch viele Dominikaner in die Stadt, vor allem aus dem Süden, wo unsere Gemeinschaft gegründet worden ist und wo sie von jeher besonders stark ist. Ihrer nahmen wir uns natürlich besonders fürsorglich an, und so war unser Kloster bald überfüllt, als wären wir Gastgeber eines Konvents.
Tagelang war gar nicht daran zu denken, unsere Nachforschungen weiterzuführen, so brennend wir dies auch wollten. Demütig übernahm es der Inquisitor, in der Stadt das immer teurer werdende Mehl zu kaufen, Zwiebeln und was er sonst noch auf den Märkten erstehen konnte, damit wir die Flüchtlinge anständig versorgen konnten. Ich ging in den Krankensaal, wusch den erschöpften Mitbrüdern, die oft wochenlang auf den Straßen gewandert waren, die Füße, verband wund gescheuerte Fersen, trug eine Paste, die unser heilkundigster Bruder gemischt hatte, auf sonnenverbrannte Haut auf und linderte mit kalten Umschlägen und Kräutersud wohl manches Fieber. Die Tage verbrachte ich so und auch die meisten Nächte. Ich empfand, ich muss es gestehen, eine heimliche Freude an dem, was ich tat, denn ich erlegte mir diesen Dienst selbst als Buße auf. Indem ich fast pausenlos arbeitete, vermied ich es, zu viel über die Toten und über die Lebenden nachzudenken — vor allem über die Lebenden.
Trotzdem bekam ich Jacquette nicht vollständig aus meinem Sinn. In jenen Tagen sah ich sie nicht, denn ich verließ das Kloster nie. Doch fragte ich mich manchmal, wo sie wohl sein mochte und wie es ihr erging in dieser unruhigen Zeit.
Auch an Klara Helmstede dachte ich und an ihr aufreizendes Wesen. Vor allem, da Meister Philippe mir nach einem seiner Gänge durch die Stadt gesagt hatte, dass die Kogge noch immer im Seinehafen dümpelte.
»Jetzt ist der Reeder gefangen«, murmelte der Inquisitor grimmig. »Richard Helmstede wird es nicht wagen, mit seinem Schiff durch ein Land zu segeln, in dem der Tod an beiden Ufern regiert. Wenn er uns etwas verheimlicht, dann wird er es uns früher oder später gestehen.«
Vom Vaganten Pierre de Grande-Rue hingegen fehlte jede Spur. Wie hätten wir ihn auch aufstöbern können? Wir waren in unserem Dienst ans Kloster gebunden. Die Sergeanten hatten alle Hände voll zu tun, in der übervölkerten Stadt für Ordnung zu sorgen. Und zwischen all den Flüchtlingen mochte es dem Spielmann noch leichter fallen als zuvor, unentdeckt zu bleiben.