Der Prior seufzte und bereitete die Arme weit aus wie ein etwas ratloser, doch gütiger Vater. Seine Augen jedoch musterten uns kalt. »Früher wenigstens hat uns das Volk ob unserer Gelehrsamkeit geschätzt und ob des Scharfsinns unserer Inquisitoren gefürchtet. Jetzt allerdings, scheint mir, haben wir nichts mehr, das ihnen noch Achtung gebietet.«
Meister Philippe verneigte sich demutsvoll, doch sah ich, dass sein Gesicht weiß geworden war und seine Lippen zitterten vor unterdrücktem Zorn. Ich tat es ihm gleich und senkte ebenfalls mein Haupt.
»Ut omnes honorificent Filium sicut honorificant PATREM qui non honorificat Filium non honorificat PATREM qui misit illum«, murmelte Bruder Carbonnet und ließ seine Worte wirken. Dann endlich hob er wieder die Stimme: »Man sagt sich auf den Straßen von Paris, dass auf uns Dominikanern ein Fluch liegt, seit einer von uns vor Notre-Dame ein so schreckliches Ende gefunden hat. Der Fluch wird, so gehen die Gerüchte, auf uns lasten, bis dass wir den Schuldigen gefunden und diese Tat gesühnt haben. Liebe Mitbrüder, ich brauche Euch bestimmt nicht daran zu erinnern, dass die Angst das Volk von Paris gepackt hält wie schon lange nicht mehr. Ihr kennt die Geschichten vom Schwarzen Tod. Wiewohl ich sie nicht glauben mag, so muss ich doch sehen, dass viele andere sie für bare Münze nehmen. Daher sind die Menschen reizbar und bereit, jedes Wort zu glauben, sofern es von finsteren Taten und Blut und Sünde kündet.
Zumal ja nicht allein der Tod Heinrichs von Lübeck ungesühnt ist…«
Die Stimme des Priors verklang, dann jedoch räusperte er sich, stand auf und ging unruhig vor dem Altar auf und ab. »Der Prévôt royal gab sich gestern die Ehre eines Besuches«, verkündete Bruder Carbonnet und der Zorn in seiner Stimme war unverkennbar. »Er machte mir in ziemlich deutlichen, um nicht zu sagen unhöflichen Worten klar, dass er mit den vielen Flüchtlingen und ihren Gerüchten und mit den Burgundischen und Englischen, die in der Nähe von Paris die Felder verheeren, schon genug Sorgen habe. Er möchte die Mörder, die Heinrich von Lübeck und Nicolas d'Orgemont ein so schimpfliches Ende bereitet haben - oder den Mörder, sollte es sich in beiden Fällen um ein und denselben Täter handeln — endlich unschädlich machen.
Der Prévôt will sie auf dem Richtplatz vor aller Augen vierteilen lassen, auf dass die Bürger von Paris abgelenkt werden von den Geschichten der Flüchtlinge - und auf dass sie sich beizeiten erinnern, dass es stets besser ist, der Obrigkeit zu gehorchen. Wir, meine Brüder, sollen ihm endlich die Schuldigen benennen. Ich habe auf den Prévôt mit solch kunstvollen Worten eingeredet, wie ich sie nur selten in einer Predigt finde. So gibt er uns noch ein paar Wochen. Doch spätestens zu Mariae Himmelfahrt wird er dem König Bericht erstatten. Sollte er dies tun, dann wird diese unselige Geschichte unfehlbar auch Seiner Heiligkeit zu Ohren kommen. Der Papst wird in dieser Situation, da uns Krieg und Krankheit drohen, um keinen Preis Streit haben wollen mit Ihrer Majestät. Ich möchte lieber nicht daran denken, was Seine Heiligkeit in so einem Fall zu unternehmen gedenkt.
Also werden wir, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die unser Leben zurzeit plagen, die verruchten Täter finden. Das heißt, Ihr, meine Brüder, werdet sie finden.«
»Ich danke Euch für Euren Großmut, Ehrwürdiger Vater«, murmelte der Inquisitor.
Der Prior segnete uns. »Ihr dürft gehen«, sagte er freundlich. »Geht und sucht!«
*
Als wir das Haus GOTTES verließen, bebte der Inquisitor noch immer vor Wut. Es hätte kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt geben können, ihm meine Missetat zu gestehen, doch so sollte es sein: Der HERR lässt uns keine Tat ohne Schwierigkeiten bereuen, denn wenn Reue einfach wäre, dann würden wir schwachen Menschen noch viel mehr Sünden begehen als wir es sowieso schon tun. »Meister Philippe, lasst uns bitte für eine Weile durch den Kreuzgang wandeln, bevor wir uns wieder in Paris auf die Suche nach den Mördern machen«, bat ich ihn.
Der Inquisitor sah mich erstaunt an, sagte allerdings nichts, sondern nickte nur zustimmend.
So gingen wir denn langsam unter dem Säulengang dahin, der uns noch kühlen Schatten bot, während die Sommersonne den Innenhof buk. Ich gestand dem Inquisitor meine heimlichen Wege zu Pietro Datini. Immerhin erleichterte es mich, dass sie, wie ich hoffte, nicht vergebens gewesen waren. Denn selbstverständlich erzählte ich auch getreulich all das, was ich von Nechenja ben Isaak in Erfahrung gebracht hatte.
Philippe de Touloubre hörte sich meinen Bericht schweigend an. Er war noch immer sehr blass - ob noch aus Zorn über die Worte des Priors oder nun wegen meiner eigenen Worte, das vermochte ich allerdings nicht zu deuten.
»Nun«, sagte er, als ich endlich geendet hatte, »du wärst ein guter Ketzer geworden, mein junger Bruder. Du beherrscht, wie mir scheint, die Kunst der Heimlichtuerei und der Verstellung geschickt genug. Du kannst deine Zunge im Zaum halten und du scheust dich nicht, dich auch mit anrüchigen Leuten einzulassen, wie mit Geldwechslern, sogar mit jüdischen. Andererseits«, und nun lächelte Meister Philippe dünn, »sind dies auch genau die Eigenschaften, die einen guten Inquisitoren ausmachen. Deinde ego te ab so Ivo.«
Ich beugte mein Haupt unter seiner segnenden Hand. Die Last, die in jenem Augenblick von meiner Seele fiel, war so groß, dass ich vermeinte zu fliegen.
»Jetzt aber«, fuhr der Inquisitor fort, »wollen wir zum Juden gehen.« Die alte Jagdlust leuchtete wieder in seinen Augen auf.
*
Eilig verließen wir das Kloster. In den Straßen von Paris drängten sich Männer, Weiber und Kinder sonder Zahl, Ritter und Mönche, Bauern, Handwerker, Kaufleute, Mägde, Waschfrauen, Boten, dazu unzählige Flüchtlinge, kenntlich an ihrer fremden Tracht, an ihren seltsamen Dialekten und fremden Sprachen und am verwirrten Blick, mit dem sie jeden Vorbeikommenden musterten. Alle schwitzten sie Furcht aus wie ein Fieber und ich vermeinte, die Angst fast mit Händen greifen zu können. Große, blau schimmernde Fliegen schwebten in dunklen Wolken über den Köpfen der Menschen und quälten uns mit ihrem Gesumm. Lauter noch als sonst waren die Leute, schneller erregt und im Zorn bereit, mit Fäusten und Knüppeln wegen Nichtigkeiten aufeinander loszugehen.
Uns aber schützte noch immer die Ordenstracht. Unbehelligt gelangten wir zur Seine und über den Petit Pont auf die Insel Cite. Wir überquerten den Platz vor Notre-Dame, wo viele Flüchtlinge, die in der Stadt kein anderes Obdach gefunden hatten, unter Stoffbahnen ihr Lager aufgeschlagen hatten und von den mildtätigen Gaben der Gläubigen lebten, welche die Messen in der Kathedrale besuchten. Auch vor dem Hotel Dieu, dem größten Hospiz von Paris, das neben dem Hause GOTTES aufragte, hatten sich viele Gestalten eingefunden: Fremde, von der langen Flucht durch Frankreich geschwächt und von Krankheiten gezeichnet; Angehörige, die ihre Lieben im Hospiz besucht hatten — und zwei oder drei erbärmliche Gestalten, die glaubten, die schreckliche Seuche, von der alle Welt erzählte, bereits in sich zu tragen. Laut begehrten sie Einlass, doch da sie offensichtlich am Leib, wiewohl vielleicht nicht an der Seele, gesund waren, verwehrten ihnen die Mönche, die hier Dienst taten, energisch den Zutritt.
Ein paar Schritte hinter dem Hotel Dieu lag das andere Ufer der Insel. Meister Philippe führte mich ein Stück weit nach Osten, zur Spitze der Cite, die gegen die Strömung des Flusses wies. Ich erblickte von dort aus schon die beiden unbewohnten Eilande Ile-aux-Vaches und Ile-de-Notre-Dame, die wohl einige hundert Schritt stromauf in der Seine lagen. Sie trugen Ginster und Eiben, Schilf und kleine, versumpfte Weiden, aber kein einziges Gebäude von Menschenhand. An ihren Ufern jedoch waren Wassermühlen festgemacht, welche die Kraft des Flusses nutzten, um Getreide für den ewig hungrigen Magen von Paris zu mahlen. Fischernetze steckten im flachen Wasser entlang der Schilfgürtel. Ein losgerissener Lastkahn, längst von seinem Besitzer aufgegeben und schon halb vermodert, hatte sich in einem der Netze verfangen und schwankte in der Strömung langsam hin und her. Der dunkle, morsche Kahn kam mir in diesem Augenblick vor wie ein riesiger Zeigefinger, der mahnend geschwenkt wurde. Doch wenn es so war, dann wollte dies in ganz Paris niemand sehen.