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»Bruder Ranulf heiße ich, mein Fräulein«, antwortete ich mit zugeschnürter Kehle.

»Frau, nicht Fräulein. Ich bin Witwe«, korrigierte sie mich. Sie blickte mich aufmerksam an, nicht unhöflich, nicht freundlich, sondern so, als wartete sie ab. »Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet, Bruder Ranulf.«

Ich wusste nicht, wohin mit meinem Blick, wohin mit meinen Händen. »Gelehrt bin ich wohl schon«, murmelte ich, merkte dann, wie dumm dies klang, und setzte rasch hinzu: »Selbstverständlich nicht so gelehrt wie Meister Philippe, der Inquisitor.«

»Selbstverständlich«, pflichtete sie mir ohne die Spur eines Lächelns bei.

»Aber ich bin ein Magister der Sieben Freien Künste. Und ich werde, so GOTT es will, in Paris Theologie studieren«, setzte ich hinzu, langsam ein wenig von meiner Selbstsicherheit zurückgewinnend. »Ihr seid nicht von hier?«, fragte Lea. Ich schüttelte den Kopf. »Aus Köln komme ich.« Zum ersten Mal lächelte sie. »Ich bin in Paris geboren.« Dann wechselte sie unvermutet ins Deutsche, das sie mit einem seltsamen Akzent sprach, den ich nicht zu bestimmen vermochte. »Aber mein Vater hat mir oft von Würzburg erzählt, woher er stammt. Ich wünschte, ich würde es einmal sehen können. Genauso wie Spanien, wohin mein Vater für viele Jahre gegangen ist, als er noch ein junger Mann war.« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und beschränkte mich daher auf eine unverbindliche Geste.

»Meine Stiefmutter ist dagegen, dass ich reise, denn das schickt sich nicht. Schon gar nicht für eine Jüdin«, fuhr sie fort und musterte mich dabei noch immer aufmerksam. »Mein Mann hätte mir dies wohl erlaubt, doch war er nicht mehr jung, als er mich zum Weibe nahm. Er wurde krank und starb, ohne dass ich auch nur einmal aus Paris herausgekommen wäre.«

»GOTT sei seiner Seele gnädig«, murmelte ich mechanisch. »Seid Ihr schon weit gereist, Bruder Ranulf?«

Ich rang mir ein Lächeln ab. »Das ziemt sich nicht für einen Mann von meinem Stand. Die Reise von Köln nach Paris ist die einzige, die ich bislang unternommen habe. Doch wer weiß, wohin mich der HERR noch schicken wird.«

»Und trotzdem habt Ihr es besser getroffen als ich.« Lea seufzte, dann wandte sie sich um und ging zu einem der bis zur Decke reichenden Regale, wo acht besonders große, in feinstes Leder gebundene Folianten aus den Reihen der Bücher herausstachen. Sie nahm den ersten der acht Bände zur Hand.

»Ich«, fuhr sie fort, während sie fast träumerisch die schweren pergamenten Seiten umblätterte, »darf nur im Geiste reisen, indem ich die Beschreibungen der Geografen lese.«

»Ihr lest?«, rief ich verblüfft. »Aber«, ich suchte nach Worten, um meiner Fassungslosigkeit Herr zu werden, »Ihr seid doch eine Frau!« Da lachte die junge Jüdin. »Bruder Ranulf«, tadelte sie mich, doch ihr Ton war plötzlich freundlich geworden, »gelehrt mögt Ihr sein, doch die Welt kennt Ihr nicht. Wir Juden lesen Thora, Mischna und Talmud, wusstet Ihr das nicht? Ich studiere unsere heiligen Texte — und was mir sonst lesenswert erscheinen mag - auf Hebräisch und Latein, auf Französisch und Deutsch, ganz wie es mir gefällt.« Da ich ihr nicht antwortete, denn ich wusste nichts zu erwidern, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort: »Kennt Ihr die ›Geografie‹ des Ptolemaeus?«

Ich erholte mich wenigstens so weit von der Überraschung, ja dem Schock, eine Frau über Bücher reden zu hören, dass ich ihr vernünftig antworten konnte. »Ptolemaeus ist der größte Geograf der Alten«, murmelte ich, während ich versuchte, mich an alles zu erinnern, was ich über ihn gelesen hatte. »Ein Grieche, wenn ich mich nicht irre.« Lea lächelte. »Immerhin kennt Ihr seinen Namen. Ptolemaeus lebte vor über eintausend Jahren«, fuhr sie dann fort und strich wieder fast zärtlich über den Folianten, »doch vieles von dem, was er in seinen acht Bänden festgehalten hat, ist niemals an Wissen übertroffen worden. Das zumindest behauptet mein Vater — und er sollte es wissen: Das Sammeln von Büchern über Geografie, über ferne Länder und fremde Menschen ist nämlich seine Leidenschaft. Fast alle Werke, die Ihr hier seht, handeln von diesen Dingen und im Laufe der Jahre habe ich sie alle studiert. Ich gestehe — doch ich hoffe, dass das in Euren Augen keine Sünde ist, Bruder Ranulf —, dass ich Werke über ferne Länder fast lieber lese als den Talmud. Und niemand ist mir dabei so lieb wie Ptolemaeus. Seht her.«

Sie hatte den Band auf einem Lesepult abgelegt und aufgeschlagen. Ich trat näher, bis ich direkt neben ihr stand.

»Seht Ihr?«, fragte sie mich und deutete auf die Seiten. Das Pergament war gelb, aber nicht brüchig. Die Linien, die ich erblickte, waren fein. Doch erst nach einiger Zeit entwirrte sich meinen Augen das Bild: Es war eine Landkarte, hineingezeichnet in den Text: Inseln sah ich und ein Meer, in dessen Wogen Wale, Oktopusse und anderen schauderhafte Wesen schwammen.

»Glückliche Inseln« las ich die Beschriftung, die in feiner, sauberer Handschrift neben den Eilanden stand. Es war Griechisch.

Die junge Jüdin lächelte. »Ein schöner Name, nicht wahr? Nein, kein Name mehr,« korrigierte sie sich rasch, »sondern ein Lockruf.« Sie duftete ganz zart nach Rosenwasser und ich Sünder stand so nah bei ihr, dass ich vermeinte, die Wärme ihrer Haut zu spüren. »Wo liegen diese Inseln?«, fragte ich närrisch - nur um einen Vorwand zu haben, auf den Folianten zu starren und an Leas Seite stehen bleiben zu dürfen.

Sie deutete hinaus aus dem Fenster. »Irgendwo dort draußen im Meer, jenseits der Küsten von Spanien. Jedenfalls steht es so bei Ptolemaeus. Seht her: Hier ist die iberische Küstenlinie, da sind die Glücklichen Inseln. Und dahinter…« Ihre Stimme verklang. »Finis mundi«, vollendete ich. »Dahinter ist nur noch der Ozean, der bis zum Ende der Weltenscheibe reicht. Dahin wird mich, so hoffe ich, mein Orden wohl nicht schicken.«

Die junge Jüdin lächelte mich an, dass mir das Blut ins Gesicht schoss. Dann jedoch wurde sie unvermittelt ernst, klappte den Folianten zu und wandte sich zum Regal. »Der einzige ferne Ort, den ich wohl je in meinem Leben sehen werde, wird Orleans sein«, flüsterte sie.

»Orleans?«, fragte ich und atmete dabei tief ein, um noch den letzten Rest ihres Rosenduftes in mich aufzusaugen, denn ich wagte es selbstverständlich nicht, ihr zu folgen, sondern war am Lesepult stehengeblieben.

»Mein Vater und meine Stiefmutter wollen, dass ich im Herbst, wenn mein Jahr Witwentrauer zu Ende geht, Moses ben Joseph heirate«, sagte Lea. »Er ist der reichste Geldwechsler von Orleans.« Mir war, als hätte sie mir eine Ohrfeige gegeben. Ich musste mich ans Lesepult klammern, um nicht zu wanken.

»Fühlt Ihr Euch unwohl, Bruder Ranulf?«, fragte Lea besorgt. »Soll ich Euch Wasser kommen lassen?«

»Nein, nein«, wehrte ich ab, beschämt darüber, dass ich mich schon zum zweiten Mal an jenem Tag so gehen ließ, dass ich die Aufmerksamkeit meiner Mitmenschen erregte und dass mich Meister Philippe so sehen könnte — das wäre das Letzte gewesen, was mir in jenem Moment behagt hätte.

»Wir sind nur schon seit Stunden auf den Beinen«, versuchte ich eine Erklärung.

»Warum seid Ihr eigentlich hier, Bruder Ranulf? Ihr und der gefürchtetste Inquisitor von Paris. Was sucht Ihr bei meinem Vater?« Alle Freundlichkeit war plötzlich wieder aus Leas Zügen und aus ihrer Stimme gewichen.

Ich schluckte. Sollte ich ihr die Wahrheit sagen? Durfte ich dies überhaupt - oder wäre dies erneut ein Bruch des Vertrauens gegenüber Meister Philippe gewesen? Dann sagte ich mir allerdings, dass Nechen- ja ben Isaak, kaum, dass wir dieses Haus verlassen würden, mit seiner Tochter über uns sprechen und sie deshalb sowieso alles erfahren würde.