Also entschloss ich mich, Lea die Wahrheit zu sagen. Und je länger ich sprach, desto leichter wurde mir ums Herz. Ich erzählte ihr vom toten Heinrich von Lübeck - und wie ich, der ich doch gerade erst in Paris eingetroffen war, dank der Vorsehung unseres HERRN zum Inquisitor geworden war. Ich berichtete, wie wir Jacquette gefunden und wieder verloren hatten, vom Reeder Richard Helmstede und vom Domherrn Nicolas d'Orgemont - auch wenn ich dessen Sünden nicht beschrieb. Meine nächtliche Verfolgungsjagd durch Paris ließ ich lieber unerwähnt und ebenso verriet ich nicht, wie ich letztlich darauf gekommen war, dass Heinrich von Lübeck bei Leas Vater gewesen sein musste. Trotzdem hoffte ich, dass die junge Jüdin nun verstand, warum wir in ihrem Haus waren.
Lea nickte. »Ich danke Euch für Eure Offenheit, Bruder Ranulf«, sagte sie ernst. Dann hob sie den Kopf, sah mir direkt in die Augen und ich hätte schwören mögen, dass sie mir etwas ungemein Wichtiges mitteilen wollte. Doch genau in jenem Moment traten der Inquisitor und der Geldwechsler wieder in die Bibliothek - und Lea senkte das Haupt und trat schweigend und demütig zurück.
*
Meister Philippe war würdevoll und höflich, als er gemessenen Schrittes das Zimmer durchmaß. Doch ich kannte den Inquisitor inzwischen gut genug, um sofort zu erkennen, dass er loderte von innerem Zorn.
Wir wechselten noch ein paar unverbindliche Worte mit Nechenja ben Isaak. Ich wagte nicht, zu Lea hinüberzublicken, die sich inzwischen zu einem Schreibpult zurückgezogen hatte und dort mit gesenktem Haupt wartete. Ich befürchtete, dass der Inquisitor sonst meinen Blick auffangen und wenig schmeichelhafte Dinge über mich denken mochte. So bemühte ich mich, beflissen zu nicken, als der Geldwechsler seine Abschiedsworte sprach.
Erst, als wir schon an der Tür der Bibliothek standen und Nechenja ben Isaak einem seiner Diener geläutet hatte, auf dass er uns hinausgeleiten möge, wandten wir uns alle, wie es die Höflichkeit gebietet, der anwesenden Dame zu.
Bescheiden trat Lea hinter dem Schreibpult hervor, einen kleinen Kodex in der Hand haltend. Doch gerade in jenem Augenblick, da sie sich zu uns verbeugte, glitt ein Seidenband, das ihr als Lesezeichen diente, zwischen den Seiten heraus und segelte zu Boden. Rasch hob sie das rote Band auf. So rasch, dass sie strauchelte, einen Schritt nach vorne tat — und für einen Augenblick in meine Arme taumelte.
Oh, welch süße, sündige Wonne mich in jenem Moment durchschauerte, da ich ihren Körper auffangen durfte! Sie, für einen Augenblick wenigstens, in den Armen zu halten, bevor ich ihr — rasch, verlegen und ungeschickt — mit schamrotem Gesicht auf die Beine half.
Plötzlich fühlte ich, wie mir ein Stück Pergament in die Hand geschoben wurde. Lea hatte mir unauffällig einen Fetzen in die Rechte gedrückt, als ich ihr beistand. Für einen winzigen Moment nur blickte sie mich beschwörend an, dann senkte sie schnell das Haupt. Eine Entschuldigung murmelnd und mit einem tiefen Knicks sagte sie uns Lebewohl und verschwand noch vor uns aus der Bibliothek. Der Inquisitor und ihr Vater mussten denken, dass sie sich ob ihres unschicklichen Sturzes schämte. Ich jedoch stand in der Bibliothek, als hätte mich der Flügel eines Engels gestreift. Das Pergament brannte wie Feuer in meiner Hand. Wohin damit? Meine Kutte hatte ja nicht einmal eine Tasche. Also ballte ich mit schwitzenden Fingern eine Faust und hoffte, so den Fetzen zu verbergen, bis ich irgendwann Gelegenheit fände, ihn unbeobachtet zu lesen. Denn dass er eine Botschaft enthielt, bezweifelte ich nicht einen Augenblick. Wahrscheinlich hatte Lea sie hastig hingekritzelt, als sie ans Schreibpult getreten war, während Meister Philippe und ich die letzten Worte mit ihrem Vater gewechselt hatten — und keiner sie eines Blickes gewürdigt hatte.
Auf dem Weg zurück zu unserem Kloster bemühte ich mich, stets einen halben Schritt hinter dem Inquisitor zu gehen, damit er nicht meiner eines Mönches so unwürdigen Faust ansichtig wurde. Doch diese Vorsicht war, wie sich rasch herausstellte, unnötig, denn Meister Philippe ließ nun seinem Zorn und mit ihm seinem Körper freien Lauf. In mächtigen Schritten eilte er die Straße hinunter und achtete meiner so wenig wie der Hitze, welche die Luft über den engen Straßen buk.
»Der Jude lügt!«, schnaubte der Inquisitor. »Ich möchte wissen, was Nechenja ben Isaak alles bei den Mauren in Spanien getan hat, und warum er dann fortgegangen ist. Seine beiden Söhne, sagt er, sind Rabbiner geworden. Einer in Speyer - und der andere? Der Geldwechsler wand sich ein wenig, doch schließlich gestand er es mir: Sein zweiter Sohn ist Rabbiner in Lübeck!«
Mir, der ich eine geheime Botschaft von Nechenja ben Isaaks drittem Kind in Händen hielt, schwindelte so, dass ich einen Moment glaubte, auf der Straße zu stolpern. »Das mag die Verbindung zu Heinrich von Lübeck erklären«, warf ich ein.
Der Inquisitor nickte. »Und auch zum Reeder Richard Helmstede.« Er schüttelte den Kopf, als grüble er über ein Rätsel nach. »Nechenja ben Isaak gab unumwunden zu, dass er Geldgeschäfte nicht nur mit manchen Edlen Frankreichs und mit vielen Pariser Kaufleuten macht, sondern auch mit den Burgundischen und Englischen, wiewohl diese doch Feinde des Königs von Frankreich sind. Ein Geständnis also, dass dem Geldwechsler durchaus gefährlich werden kann.
Derselbe Mann jedoch, der in diesen Dingen mir gegenüber so offen ist, leugnet in starken Worten, dass er vor jenem Besuch je von Heinrich von Lübeck gehört oder ihn gar gesehen habe. Stimmen beide Geschichten? Oder spricht er in diesem die Wahrheit und lügt mich in jenem an? Die Juden sind falsch, Bruder Ranulf, hüte dich vor ihren Worten! Dilexerunt enim gloriam hominum magis quam gloriam DEI.«
Ich nickte und dachte an die Botschaft Leas in meiner Hand. Ob wahr oder falsch, wie gerne hätte ich sie endlich zu lesen gewagt! »Nechenja ben Isaak behauptet jedenfalls, dass Heinrich von Lübeck zu ihm gekommen sei, um ihn zu fragen, zu welchen Zinsen er eine größere Summe leihen könne. Der Jude behauptet weiterhin, dass unser verstorbener Bruder weder gesagt habe, wie hoch genau jene Summe sein solle, noch, wozu er das Geld haben wolle. Nechenja ben Isaak gab ihm daraufhin angeblich seine Bedingungen kund, worauf Heinrich von Lübeck, so sagt der Geldwechsler, sich mit den Worten verabschiedet habe: ›Ich muss mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich werde zurückkehren, wenn mir das Geldgeschäft tatsächlich zupass kommt.« Nechenja ben Isaak behauptet weiterhin, seit jenem Tag Heinrich von Lübeck nicht mehr gesehen zu haben. Aber kann ich dies alles glauben?«
Den Rest des Weges legten wir rasch und schweigend zurück. Es war schon später Nachmittag, als wir das Kloster in der Rue Saint-Jacques wieder betraten. Wir hatten nicht einmal Zeit, den Staub der Stadt aus unseren Gewändern zu schütteln, denn der Prior hatte dem Portarius aufgetragen, uns sofort zu ihm zu führen.
»Ihr habt den Juden nicht verhaften lassen, Meister Philippe?«, fragte uns Bruder Carbonnet und hob missbilligend eine Augenbraue. »Dazu ist es noch zu früh, Ehrwürdiger Vater«, antwortete der Inquisitor. »Aber was heute noch nicht geschehen ist, kann sich schon morgen zutragen.«
Dann berichtete er von dem, was ihm Nechenja ben Isaak erzählt hatte.
»Und was sind Eure Schlussfolgerungen?«, wollte der Prior wissen. Meister Philippe durchmaß mit großen Schritten den Raum. »Sicher ist, dass der Jude ein geschickter Mann ist. Er spielt ein doppeltes Spiel und verleiht sein Geld an den König von Frankreich ebenso wie an dessen Todfeinde. So wird er, wie immer dieser Krieg ausgehen mag, stets auf der Seite der Sieger stehen. Verschlagen mag er sein, doch sind dies nicht alle Geldwechsler?
Das allein sagt noch nichts darüber aus, ob er auch etwas mit jenem Todesfall zu tun hat, der uns alle so erschüttert. Angenommen, Nechenja ben Isaak spricht nur die halbe Wahrheit: Möglicherweise wollte sich unser verstorbener Mitbruder kein Geld leihen. Dann ist das Geld, das wir bei Heinrich von Lübeck fanden, vielleicht eine Summe, die der Unglückselige bei dem Geldwechsler zu gutem Zins anlegen wollte. Doch woher sollte Heinrich von Lübeck dieses Geld haben? Und wozu sollte er damit zum Juden gehen? Es wäre auch möglich, dass dieses Geld doch geliehen ist — von einem anderen Geldwechsler, der bessere Bedingungen unterbreitet hat als Nechenja ben Isaak. Doch unser junger Bruder hier«, er deutete auf mich, »hat Pietro Datini befragt, in diesen Dingen einer der erfahrensten Wucherer von Paris. Dieser Datini weiß von niemandem sonst, bei dem Heinrich von Lübeck gewesen sein könnte. Wäre es also ein unbekannter Geldgeber — wer könnte dies sein, dass ihn nicht einmal Seinesgleichen kennen?