Gehen wir andererseits davon aus, dass der Jude lügt, was folgt daraus? Dass die Summe — eine beträchtliche Summe immerhin — doch von Nechenja ben Isaak an unseren Mitbruder ausgeliehen worden ist. Warum aber sollte Nechenja ben Isaak dies leugnen? Wenn es sein Geld ist, er es jedoch abstreitet, dann wird er all die Taler und Münzen nie wiedersehen.«
»Er verzichtet lieber auf sein Geld, als etwas zuzugeben, dass ihn in Verbindung mit einem ermordeten Mönch bringt«, vermutete der Prior. »Vielleicht kennt er einen Zusammenhang zwischen diesem Geld und der schrecklichen Untat. Vielleicht ist er gar selbst der Mann, der jenen tödlichen Stich führte. Wir sollten ihn verhaften lassen und verhören. Glühende Zangen und erzene Daumenschrauben haben schon bei vielen Sündern den Panzer der Verstocktheit um ihre Seelen überwunden.«
Der Inquisitor schüttelte den Kopf. »Noch nicht, Ehrwürdiger Vater. Ich lasse nur jemanden auf die Streckbank legen, wenn ich weiß, dass er mir auf präzise Fragen auch ebensolche Antworten zu geben vermag. Unter der Folter gesteht früher oder später fast jedermann alle Sünden — doch was sind solche Geständnisse wert? Wenn ich nicht wenigstens eine ungefähre Vorstellung von dem habe, was wahr ist und was falsch, dann vermag ich auch nicht, die Gültigkeit einer Antwort richtig einzuschätzen. In diesem Fall habe ich so viele Fragen, deren Antworten ich nicht einmal ahne, dass mir die Folter wenig nützt. Was, beispielsweise, hat dieser Vagant mit allem zu schaffen? Gibt es eine Verbindung zwischen Pierre de Grande-Rue und Nechenja ben Isaak? Und von beiden zu Heinrich von Lübeck? Ich kann mir keine vorstellen.
Lege ich den Geldwechsler jetzt auf die Streckbank, dann wird er mir, nenne ich den Namen des Vaganten, sicher vor Angst und Schmerz eine Geschichte vortragen. Doch welchen Wert hätte diese für uns? Vielleicht gibt es keine Verbindung zwischen Geldwechsler und Vaganten. Oder, noch schlimmer, vielleicht gibt es eine — doch die ist so verschlungen, dass Nechenja ben Isaak sie selbst nicht sieht. Lasse ich ihn jetzt foltern, dann könnte dies eine Verdunkelung seiner Seele oder gar seinen Tod zur Folge haben — und wir hätten keine Möglichkeit mehr, jene hypothetische Spur zwischen ihm und Pierre de Grande-Rue zu entdecken.
Rätselhaft ist auch, wie der Reeder aus Lübeck in unsere Geschichte passt. Soll ich den Juden nach Richard Helmstede fragen? Aber was eigentlich soll ich ihn fragen? Hat der sündige Domherr Nicolas d'Orgemont, den wahrscheinlich eine Schönfrau erstach, irgendetwas mit dem Mord an Heinrich von Lübeck zu tun? Soll ich auch dazu den Geldwechsler befragen?
Nein«, Meister Philippe schüttelte den Kopf, »ich muss erst die Zahl der offenen Fragen verringern, bevor ich irgendeinen Verdächtigen der peinlichen Befragung unterziehen lasse. Sonst bekomme ich zwar ein Geständnis — aber nicht den Mörder!«
*
Ich litt derweil Qualen der Ungeduld - und ich musste weiterleiden. Denn als uns der Prior endlich entließ, da mussten wir uns eilen, um noch der Vesper beizuwohnen. Oh, wie lange schien mir der Lobpreis GOTTES zu dauern, wie zäh zerfloss die Zeit, wie getragen waren unsere Hymnen zu SEINEM Ruhm! Nie wohl hat es einen Mönch gegeben, der so ungeduldig auf dem harten Boden einer Kirche kniete wie ich.
Dann, endlich, verklang der letzte Psalm. Die Glocke läutete. Gemessenen Schrittes schlichen wir in Zweierreihen aus dem Hause GOTTES. Im Kreuzgang verneigte ich mich vor Meister Philippe und bat ihn demütig, mich in meiner Zelle von den Strapazen des Tages ausruhen zu dürfen.
Der Inquisitor segnete mich und empfahl mir, mich ein wenig auszustrecken. Dann wandte er sich um und eilte fort in Richtung Skriptorium.
Ich zwang mich, meine Schritte zu mäßigen. Langsam ging ich zu meiner Zelle, öffnete die Tür, schlüpfte hinein und schloss die Tür wieder. Zitternd stand ich, ich weiß nicht, wie lange, in dem kargen Raum und atmete schwer.
Dann öffnete ich das Pergament und las: »8,23+24«.
Mehr nicht. Ich drehte und wendete den Fetzen, doch fand ich keine weitere Notiz darauf.
Ich fühlte mich leer, getäuscht, ja verhöhnt. Das war alles? Drei Ziffern? Hatte sich Lea etwa einen albernen Scherz mit mir erlaubt? Wagte sie es tatsächlich, mich, einen Inquisitor — wenn auch den jüngsten und unerfahrensten Hund des HERRN - derart zum Narren zu halten?
Dann jedoch sagte ich mir, dass Lea eine Vorsicht hatte walten lassen, an die ich nicht einmal gedacht hatte. Hätte sie ihre Nachricht in klarer Sprache niedergeschrieben, sie hätte bei ihr oder bei mir entdeckt werden können. Das wollte sie offensichtlich vermeiden - und so bekam ich einen Fetzen, den man, zumindest auf den ersten Blick, bloß für ein zufällig abgerissenes, gänzlich bedeutungsloses Stück Pergament halten musste. Eine Notiz, wie sie wohl hundertmal gemacht wurde in der Stube eines Geldwechslers. Was aber mochte sich hinter 8,23+24 verbergen? Wohl eine Stunde lang grübelte ich. Hatte es etwas mit dem Geld zu tun, das wir bei Heinrich von Lübeck gefunden hatten? Ich kam auf keinen Zusammenhang. Was sonst sollte es sein?
Auf einmal schoss mir die Schamröte ins Gesicht, weil ich nicht eher darauf gekommen war: Was wusste Lea schon von mir? Dass ich Mönch war, sonst fast nichts. Das eine, dessen sie sich sicher sein konnte, war, dass ich einen bestimmten Text kannte. Raschen Schrittes ging ich hinüber zur Wand, wo ein rohes Brett mir als Regal diente. Dort griff ich zur Bibel, dem einzigen Buch in meinem Raum.
Mit zitternden Händen schlug ich die Seiten des Alten Testaments auf: Doch ob in den Büchern Mose oder in den Psalmen, ob bei den Propheten oder in den Geschichten der Richter und Könige — nirgendwo fand ich unter dem Kapitel 8 und den Versen 23 und 24 ein Zitat, das einen Sinn ergab für mich.
Ich stockte. Konnte es sein, dass Lea, eine Jüdin, die Evangelien kannte? Wer würde dies vermuten? Andererseits hätte ich auch nicht geglaubt, dass sie die Werke der alten Geografen kannte. Vielleicht also war dies nur noch eine weitere Verschleierung. Hastig blätterte ich nun im Neuen Testament. Und schließlich schwebte mein Zeigefinger über dem Text des Matthäus: »Et ascendente eo in navicula secuti sunt eum discipuli eius et ecce motus magnus factus est in muri ita ut navicula operiretur fluctibus ipse vero dormiebat«, flüsterte ich: »Und er stieg in das Boot, und seine Jünger folgten ihm. Und siehe, da erhob sich ein gewaltiger Sturm auf dem See, sodass auch das Boot von Wellen zugedeckt wurde. Er aber schlief.«
8
DAS GESTÄNDNIS DER SCHÖNFRAU
Die nächsten zwanzig Tage litt ich Qualen, deren Bitternis auch zwanzig Jahre hätte füllen können. Zwanzig Tage lang musste ich im Kloster verharren. Zwanzig Tage lang brannte ich darauf, durch die Stadt zu eilen, und musste doch vor Mauern und Pforten kapitulieren wie ein Gefangener im Verlies. Immer stärker schwoll der Strom der Fliehenden an, die in Paris einen sicheren Hafen sahen. Jetzt kamen auch die Bauern, die doch gewöhnlich als letzte das Land verlassen: grobe, ungeschlachte Gestalten in grauen und braunen Wollgewändern und Lumpen; Menschen, die, wenn sie denn überhaupt sprachen, einen gutturalen Dialekt gebrauchten, den ich kaum zu verstehen vermochte. Ihre Hände waren hart und kräftig wie eiserne Zangen, ihre Rücken stark gebeugt, ihre Münder ohne Zähne und ihre Haut stank erbärmlich nach Vieh und altem Stroh.