Wir hatten die strenge Anweisung unseres Priors, den Bauern gegenüber Barmherzigkeit zu üben, auf dass uns niemand nachsagen könne, wir seien weniger mitleidig als die Brüder vom Orden des heiligen Franziskus. Deshalb gebot er uns, in unserer Suche nach dem Unhold noch einmal innezuhalten. Also fügte ich mich, auch wenn das Feuer der Ungeduld in mir loderte. Ich säuberte Wunden, wusch Füße und legte lindernde Salben auf Schultern und Gliedmaße, wo die Krätze sich tief in die Haut gefressen hatte.
Müde war ich, denn selbstverständlich rief uns auch weiterhin die Glocke bei Tage und bei Nacht in die Kirche. Trotzdem schlief ich schlecht, denn wenn ich endlich auf meiner Pritsche lag, dann musste ich an Leas Botschaft denken.
»Et ascendente eo in navicula secuti sunt eum discipuli eius et ecce motus magnus factus est in mari ita ut navicula operiretur fluctibus ipse vero dormiebat«, flüsterte ich unzählige Male. Ein Boot, ein Sturm und jemand, der schlief. Was mochte das bedeuten? Die einzige Verbindung der biblischen Worte zu unserem Fall, die ich herstellen konnte, war die zur Kogge des Reeders Richard Helmstede. Mein ermordeter Mitbruder stammte aus Lübeck, ebenso der Reeder. Ein Sohn des Geldwechslers war Rabbiner in dieser nördlichen Hansestadt und mithin ein Bruder Leas: Hatte er seiner Schwester womöglich ein Geheimnis anvertraut? Eine fragile Kette verband diese Menschen und ihre Schicksale, vielleicht handelte es sich aber auch um nichts weiter als eine Reihe von Zufällen.
Andererseits: Hatte Nechenja ben Isaak möglicherweise etwas mit Richard Helmstede zu schaffen? Hatte er ihm Geld geliehen — oder schuldete er es ihm? War Heinrich von Lübeck, ein Vertrauter des Reeders, in diesem Fall vielleicht kaum mehr gewesen als ein Vermittler oder Überbringer von Geld? Waren die Münzen, die wir an seinem entweihten Leib gefunden hatten, dann vielleicht gar nicht die Seinen, sondern die des Geldwechslers? Oder des Reeders? Warum jedoch sollte mich Lea auf eine derartige Verbindung hinweisen, die doch ihren Vater in höchste Gefahr bringen könnte? In einer dieser Nächte, die ich schlaflos verbrachte, glaubte ich, wieder Schritte und Stimmen zu hören. So viele Mitbrüder und Kranke waren inzwischen in unserem Kloster, dass die Nächte längst nicht mehr still waren: Husten und Murmeln hörte ich und des Öfteren unruhige Schritte, denn die Flüchtlinge schienen mir immer in Bewegung sein zu wollen. Kaum waren sie stark genug, dass sie sich wieder von ihren Pritschen erheben konnten, so wanderten sie ziellos den Kreuzgang entlang, selbst zur dunklen Stunde.
Diese eine Nacht jedoch war es anders. Ich hörte Schritte, die verklangen. Dann kamen wieder Schritte. Und wieder. Und wieder. Wie die Male zuvor war es so, als fände irgendwo eine nächtliche Versammlung statt, als würden sich Gestalten tief ins Innere unseres Klosters schleichen, um ein geheimnisvolles Treffen abzuhalten. Also zwang ich meine bleierne Müdigkeit nieder und glitt hinaus auf den Gang. Nichts. Hatten mich meine überreizten Sinne getäuscht? Da erblickte ich den schwachen Schimmer eines flackernden Lichts in der Bibliothek.
So eilte ich denn den Gang hinunter und drängte mich im Schatten des Kreuzganges an die Wand. Schritt für Schritt näherte ich mich dem hohen, schlichten Bau, in dem sich Bibliothek und Skriptorium befanden.
Plötzlich war alle Müdigkeit von mir gewichen. Hinter einem der Fenster der Bibliothek glomm, wiewohl schwere Vorhänge vorgezogen waren, ein Talglicht. Ich glaubte, hinter dem Glas Schatten zu sehen, Geistern ähnlicher als Menschen. Wie viele es waren, das vermochte ich nicht zu sagen.
Langsam schlich ich mich näher heran. Vielleicht, so hoffte ich, konnte ich an der Tür zur Bibliothek lauschen und damit endlich herausfinden, wer die Nachtgestalten waren und warum sie sich heimlich versammelten.
Doch ich hatte mich erst wenige Schritte herangeschlichen, als die Tür der Bibliothek aufsprang — und eine dunkle Figur hinaustrat. Wer immer es war, die Gestalt kam direkt auf mich zu. Entsetzt floh ich. Ich wusste nicht, ob mich der Unbekannte entdeckt hatte oder ob nur eine Laune seine Schritte in meine Richtung lenkte. Doch musste er mich selbst dann, wenn ihn nur der Zufall hinausgetrieben hatte, bald entdecken, wenn ich mich nicht rasch versteckte. So eilte ich, ohne mich auch nur einmal umzublicken, mit bloßen Füßen zurück zu meiner Zelle. Ich flehte den HERRN an, mich vor der Entdeckung durch den Unbekannten zu bewahren - und GOTT gewährte mir zumindest diese Gnade.
Ich schlüpfte in meine Zelle, schweißgebadet, mit hämmerndem Herzen und schmerzender Lunge - doch ohne dass mich die Nachtgestalt behelligt hätte. Ich hatte noch genug Geistesgegenwart, meine Türe nicht zu schließen, denn das Klicken des Schlosses hätte mich womöglich verraten. So war sie nur angelehnt — und ich stand an der Mauer und lauschte.
Ich hörte keine Schritte mehr.
Wie lange ich so wartete, weiß ich nicht mehr. Irgendwann jedoch wagte ich es, die Tür Millimeter um Millimeter aufzuziehen. Unendlich langsam öffnete sich ein Spalt. Ich legte mich auf den Boden und schob meinen Kopf, die Wange am kalten Steinboden, so weit hinaus, dass ich den Gang entlangblicken konnte. Da stand der Unbekannte. Zu Tode erschrocken riss ich mein Haupt zurück und flehte den HERRN an, dass er mich ein weiteres Mal vor der Entdeckung bewahrte, auch wenn ich mein Schicksal erneut versucht hatte. Tatsächlich hielt ER wieder SEINE schützende Hand über mich.
Die dunkle Gestalt, das immerhin konnte ich mir nach meinem allzu hastigen Blick zusammenreimen, war ein Wächter. Er stand im Schatten am Ende des Ganges, dort, wo dieser in den Kreuzgang mündete. So würde er jeden sehen, der aus einer Zelle, aus dem Dormitorium oder aus der Krankenstube trat und sich dabei der Bibliothek näherte. Was würde der Unbekannte tun, sollte er jemanden erblickten? Einen Warnruf ausstoßen? Oder einen Dolch ziehen? Mir war jedenfalls klar, dass ich in meiner Zelle gefangen war. Erst als die Glocke zu den Laudes rief, trat ich hinaus - genau wie alle anderen Brüder.
Da es Juni war und mithin die Sonne besonders früh aufging, lag selbst zum Zeitpunkt dieses Frühgebets schon ein grauer Schimmer Licht in der Luft. Ich sah deshalb sofort, dass der Unbekannte am Ende des Ganges verschwunden war. In der Bibliothek brannte kein Licht mehr. Und in der langen Reihe der Mönche, die durch den Kreuzgang der Kirche entgegenschritten, fehlte niemand.
*
Erst in der dritten Juniwoche durfte ich das Kloster wieder verlassen. Es war zu Sankt Achatius, da der Prior nach der Terz Meister Philippe und mich zu sich rufen ließ.
Bruder Carbonnet war in den Wochen, da wir uns um all die Flüchtlinge sorgen mussten, alt geworden und abgemagert. Mehr noch als die Hilfsbedürftigen, derer wir uns annahmen, bedrückte ihn jedoch die Missachtung, die das Volk von Paris uns Dominikanern entgegenbrachte. Ganz zu schweigen selbstverständlich vom Tode Heinrichs von Lübeck, der noch immer ungesühnt war. Es gab inzwischen mehr als einen Bruder, der im Speisesaal, im Kreuzgang, ja selbst in der Kirche murmelte, dass allein der Fluch dieser Untat uns alle anderen Ungelegenheiten verursacht habe. Die Mönche hätten Meister Philippe und mir wohl auch manch bösen Blick zugeworfen, da wir den Sünder nicht fingen, doch die Angst vor dem älteren Inquisitor hielt sie davon ab.
»Ambroise de Lore hat mir heute Morgen einen Besuch abgestattet«, eröffnete uns der Prior.
»Der Prévôt royal?«, fragte Meister Philippe erstaunt und, wie ich seiner Stimme anhören konnte, mit aufkeimendem Zorn. »Warum habt ihr mir nichts davon gesagt, Ehrwürdiger Prior?« Bruder Carbonnet hob begütigend die Hände. »Ich wollte es tun, Meister Philippe, seid dessen versichert. Doch der Prévôt bat mich inständig darum, es nicht zu tun. Er war im ersten Morgenlicht hier. Denkt Euch: sogar ohne Diener oder Wachen! So heimlich ist er zu mir gekommen.«