Der Prior bemühte sich nicht länger, ein Lächeln zu verbergen. »Er ist gekommen, wie es einem Sünder geziemt: zerknirscht und um Vergebung heischend. Vergebung, die ich ihm selbstverständlich erteilt habe«, setzte er rasch hinzu.
»Das wird nicht der einzige Grund für Herrn de Lore gewesen sein, uns zu beehren, Ehrwürdiger Vater«, gab Meister Philippe zu bedenken, noch immer nicht ganz besänftigt.
»Gewiss nicht. Der Prévôt ist nicht mehr Herr von Paris, das ist es. Er weiß nicht mehr, wohin mit den Flüchtlingen. Woher soll er Mehl und Brot nehmen für die Menschen? Wo sollen sie ihre müden Häupter betten? Wo kann er noch Kranke niederlegen lassen? Vor allem aber: Wie kann er die Gerüchte vom Schwarzen Tod und vom Fluch des HERRN eindämmen? Immer wirrer werden die Menschen, immer weniger respektieren sie GOTTES Ordnung in dieser Welt. Manche scheren sich gar nicht mehr um die Sakramente. Sie behaupten, dass ihnen Taufe und Ehe nichts mehr bedeuten, da doch morgen die Welt untergehe. Diese Narren! Gerade wenn dies stimmte, dann müssten sie sich doch nach den Sakramenten sehnen. Doch es gibt Sünder, welche die Kirche nicht mehr achten und die Männer des Königs erst recht nicht.«
Der Prior machte eine bedeutungsschwere Pause. »Heute sind dies noch Worte, doch werden ihnen morgen Taten folgen? Was ist, wenn morgen jemand die Hand zur Faust ballt? Was ist, wenn morgen jemand das Schwert zieht? Wie wird es dann in Paris aussehen, mit all diesen Menschen in seinen Mauern?
Es wird ein Gemetzel geben, ein Strafgericht, wie es die Menschen seit Sodom und Gomorrha nicht mehr erdulden mussten. Das ist es, was den Prévôt umtreibt.«
Meister Philippe nickte. Sein Zorn war verraucht. »Ambroise de Lore will, dass wir hinausgehen und predigen wie nie zuvor«, murmelte er. Bruder Carbonnet segnete den Inquisitor. »Ihr seht in meine Seele, Meister Philippe. Ja, genau dies hat er sich von mir erbeten. Wir sollen hinausgehen und das Wort des HERRN verkünden. Wir sollen predigen, auf dass die Menschen ihre Hoffnung wiedererlangen - und gehorsam bleiben.«
»Das ist eine ernste Sache«, antwortete Meister Philippe. »Das Volk mag uns Dominikaner nicht. Wenn wir nun zu ihm sprechen und kein Gehör finden, dann schadet dies unserem Orden noch mehr. Und sollten wir gar - was GOTT verhüten möge - als Handlanger des Prévôts gesehen werden, dann wird man uns schließlich allgemein verachten. Wir müssen dem Herrn de Lore unmissverständlich klarmachen, dass wir predigen, was wir für richtig halten. Andererseits müssen wir bis ins Detail mit ihm absprechen, wo und wann wir predigen sollen. Ich möchte, dass stets ein paar Sergeanten bereit stehen, wenn einer unserer Brüder zum Volk spricht. So viele Scharlatane und sündige Propheten, so viele Schwätzer und entlaufene Priester verstecken sich inzwischen in den Gassen von Paris, dass wir bedauerlicherweise bei jeder Predigt damit rechnen müssen, dass jemand aus der Menge das Wort ergreift, um die Gläubigen noch ärger zu verwirren.«
»Ihr wollt, dass Sergeanten unsere Mitbrüder während ihrer Predigten schützen?«, fragte der Prior ungläubig.
»Unterschätzt nicht die Unruhe in Paris, Ehrwürdiger Vater«, mahnte der Inquisitor. »Ich will nicht, dass einer unserer Mitbrüder von einigen irregeleiteten Sündern verprügelt wird, und ich will erst recht nicht, dass noch ein Dominikaner stirbt.«
Bruder Carbonnet wurde blass und schwieg für eine lange Zeit. »So weit ist es also schon gekommen, HERR«, murmelte er schließlich. Dann seufzte er und tat uns noch mit allerlei Zeichen kund, dass seine Seele Qualen litt. Doch schließlich nickte er.
»Gut. Geht zum Grand Châtelet und redet mit dem Prévôt. Besprecht mit ihm alle Einzelheiten. Erst dann will ich die Brüder hinausschicken. Pax vobiscum.«
Der Inquisitor verneigte sich und eilte hinaus — und wie selbstverständlich nahm er mich mit.
*
Draußen auf den Straßen war es heiß und stickig. Die Luft brannte in den Lungen, als würde sie von tausend Flammen erhitzt. Mir war, als seien dies die Feuer der Hölle, und mit einem Mal war mir nicht mehr wohl. Ansonsten hätte dies ein Tag wie jeder andere sein können: Mensch und Tier drängten sich auf den Gassen, die Leute riefen, schrien und lachten durcheinander, ein paar junge Burschen spielten Ball, ungeachtet der Hitze. Ochsen und Esel schwitzten weiße Schaumflocken aus und waren zu müde, um Laut zu geben. Doch sah man genauer hin, dann fielen einem die Gesichter der Menschen auf: Viele, die fremd waren in Paris, sahen sich staunend um. Bei manchen blitzte die Angst in ihren Augen auf, bei anderen der Aufruhr. So mancher warf uns ein freches Wort hinterher, als wir die Rue Saint-Jacques Richtung Fluss entlangschritten. »Paris ist ein Kessel, der Teufel schürt das Feuer und braut in den Gassen den Hass zusammen wie einen Hexentrank«, murmelte Meister Philippe unvermittelt.
Ich schlug das Kreuz. »Wie meint Ihr das, Herr?«
»Nun, ich war in den letzten Tagen des Öfteren in der Stadt. Ich habe Augen, um zu sehen, und Ohren, um zu hören. Die Menschen haben Angst vor der Seuche und noch mehr Angst vor den Geschichten, die man allerorten über diese Seuche erzählt. Doch wer sich fürchtet, will einen Schuldigen für diese Misere sehen. Wer aber glaubst du, Bruder Ranulf, ist dieser Schuldige?«
Ich dachte nach. »Wir alle, da wir Sünder sind«, antwortete ich ihm schließlich. »GOTT straft uns, auf dass wir in unserem falschen Tun innehalten und zu ihm finden.«
»So kannst du als Prediger sprechen und ich werde dich loben dafür«, versetzte der Inquisitor. »Doch so denken die meisten Menschen nicht, wenn sie allein sind mit ihrer Angst. Sie suchen einen Schuldigen — und sie werden niemals glauben, dass sie selbst Schuld auf sich geladen haben.«
»Und was folgert Ihr daraus?«, wollte ich wissen.
»Mich plagt die gleiche Sorge, die auch den Prévôt umtreibt: Die Menge wird sich einen Schuldigen suchen. Vielleicht entlädt sich der Zorn gegen die Vaganten und all die Fremden, die nun in unseren Mauern weilen. Vielleicht gegen den König, den Prévôt und seine Sergeanten. Vielleicht aber auch gegen uns Mönche, vor allem uns Dominikaner.«
Ich erschrak. »Und was sollen wir tun?«
»Predigen«, erwiderte der Inquisitor und lächelte. »Und dem Volk den wahren Sünder präsentieren. Wir müssen ihn nur noch finden.« Den Rest des Weges legten wir rasch und schweigend zurück. Ich bewunderte den Scharfsinn von Meister Philippe - und fragte mich zugleich, welch geheimnisvolle Aufträge ihn selbst in den letzten drei Wochen, da alle anderen Brüder Flüchtlinge pflegen mussten, durch die Straßen von Paris geführt hatten. Wusste der Inquisitor über die schrecklichen Mordtaten inzwischen mehr als er mir offenbart hatte? Endlich gelangten wir zum Grand Châtelet — und mein Verdacht, dass Meister Philippe mehr erfahren hatte als ich ahnte, verstärkte sich dort noch. Denn wieder einmal hieß mich der Inquisitor draußen zu warten, während er ein wichtiges Gespräch zu führen gedachte. So verneigte ich mich denn demütig und enttäuscht, während der Inquisitor hineinging, um mit dem Prévôt Worte zu wechseln, die offenbar nicht für meine Ohren bestimmt waren.
Um nicht unnütz vor dem massigen Tor des Grand Châtelet herumzustehen, ging ich die wenigen Schritte bis zum Ufer der Seine. Der Boden war in der Sommerhitze hart gebacken und tückisch uneben. Man musste Acht geben, dass man sich nicht den Fuß verrenkte. Ich blieb stehen, starrte auf das Wasser und hoffte, dass sich meine Seele ins Gebet versenken möge. Doch ein Dämon war in mir, der meinen Blick hob, bis ich über all die Barken und Kähne am Seinehafen hinwegsah — auf die Kogge des Herrn Helmstede, die noch immer burggleich die anderen Boote überragte. Einsam lag sie an der Spitze eines Kais. Kein Mensch zeigte sich an Deck.
Kaum hatte ich die Kogge erblickt, dachte ich an die Gattin des Reeders. Müsste sie nicht wenigstens ein paar der Geheimnisse ihres Mannes kennen? Wüsste sie vielleicht, wem das Geld gehörte, das Heinrich von Lübeck in seiner letzten Nacht bei sich getragen hatte?