Doch kaum dachte ich an die Frau und den Mönch, da folgte mein Geist seinem eigenen, verhängnisvollen Weg. Erinnerte sich die Reedersgattin wohl noch meiner? Wo mochte Klara Helmstede in diesem Moment gerade sein? Was mochte sie tun? Welche Kleidung mochte sie tragen? Schon schweiften meine Gedanken unwillkürlich zu ihrem Körper und Hitze wallte in dem meinem auf wie ein Feuer. »Oh HERR, banne die Sünde aus meinem Geist!«, flehte ich leise. Doch vergebens. Es gelang mir zwar, meinen Blick mit Gewalt von der Kogge zu lösen und so auch meine Seele von den peinigenden Bildern zu befreien, doch sofort fanden meine Augen die Gassen und düsteren Häuser im Schatten von Notre-Dame. Nur der Fluss trennte die Schiffe im Hafen von der Insel mit der Kathedrale - und den Häusern der Juden.
Nun hatte ich Leas Bild vor meinem inneren Auge. Welches Geheimnis wollte mir die Tochter des Geldwechslers nur mitteilen? Was wusste sie von der Kogge, die nur wenige Schritte von ihrem Vatershaus entfernt lag? Musste sie das Schiff nicht jeden Tag sehen, wenn sie aus dem Fenster blickte? Hatte sie vielleicht sogar Richard Helmstede und seine Gattin kennen gelernt? In Paris womöglich oder schon viel früher?
Meine Gedanken glichen den Wirbeln, die der Fluss an den Brückenpfeilern bildete: Sie drehten und drehten sich und kamen doch nicht voran. Sie drohten mich zu verschlingen, denn mal dachte ich an den toten Mitbruder, das Geld und was wohl der Reeder und der Geldwechsler damit zu tun haben mochten, dann wieder dachte ich nur an die beiden Frauen, die mir irgendwie in dieses Mysterium verstrickt zu sein schienen.
»Die Schwangeren kommen!«, rief plötzlich eine raue Männerstimme hinter mir und riss mich aus meinen verzehrenden Gedanken. Der Mann, ein junger, kräftiger Hafenträger, hatte einen staubigen Mehlsack abgesetzt und sich neben mich gestellt. Jetzt erst sah ich, dass viele Menschen — es mochten wohl einige Hundert sein — entlang des Ufers eine Art unordentliches Spalier gebildet hatten. Sie blickten stromab, gen Westen. Dort, winzig wirkend unter den düsteren Burgmauern des Louvre, erblickte ich eine Prozession. Ein Priester trug ein mit Silber beschlagenes Kreuz voran, ein anderer schwenkte ein Fässchen mit Weihrauch, dessen graue Rauchfahne sich in der heißen Luft kräuselte. Hinter ihnen schritten, das Haupt gesenkt und unter weiten, dunklen Schleiern verhüllt, wohl zwei Dutzend Schwestern der Augustinerinnen. Ihnen wiederum folgten, Kerzen in Händen haltend und fromme Hymnen singend, sicherlich an die hundert Bürgerinnen.
»Aber«, rief ich erstaunt aus, »die Frauen sind ja alle schwanger!« Der Träger lachte, doch Hohn lag nicht in seiner Stimme. »Ihr seid wohl nicht von hier, Bruder!«, rief er. »Es sind die schwangeren Frauen aus diesem Viertel. Sie haben eine Wallfahrt gemacht, vor drei Tagen sind sie losgezogen. Endlich sind sie wieder hier.«
»Eine Wallfahrt außerhalb der Stadtmauern?«, verwunderte ich mich. »In dieser unsicheren Zeit?«
»Eben deshalb«, sagte der Träger und nickte nun ernsthaft. »Fühlt eine Bürgerin von Paris die Frucht in ihrem Leib, so zieht es sie nach Chartres. Dort, in der Kathedrale, wird die Vorhaut unseres Herrn Jesus Christus verwahrt. Eine wundertätige Reliquie, fürwahr, die schon mancher Frau bei einer schwierigen Schwangerschaft und einer gefährlichen Geburt beigestanden hat.«
Er deutete stolz auf sich. »Auch meine Mutter ist nach Chartres gegangen, als sie mich im Leibe trug. Und seht, was aus mir geworden ist!« Er zeigte mir seine muskulösen Arme und entblößte seine gesunden Zähne, dann lachte er wieder. »Gut, dass sie wieder hier sind!«, rief er dann erneut.
Langsam und würdevoll kamen die Frauen näher. Lieblich sangen sie, fromm waren ihre Blicke und das Volk jubelte. Manch einer fiel sogar auf die Knie und dankte dem HERRN. Als die Prozession nahe bei mir war, da sah ich, dass die Schwangeren zwar alle ein schlichtes, weißes Gewand trugen, wie es sich für eine Prozession ziemt, doch erkannte ich sehr wohl, dass kaum eine von ihnen arm war. Sie waren wohlgenährt: Rosig waren ihre Gesichter und wenn ein Gewand aus Versehen kurz verrutschte, so entblößte es dralle Arme und Beine.
»Es sind Frauen aus deinem Viertel?«, fragte ich den Träger. Der nickte und deutete ein wenig stromab. »Seht Ihr die Kirche dort, Bruder? Saint-Jacques-de-la-Boucherie heißt sie, denn daneben, in dem prachtvollen Haus, residiert die Zunft der Metzger. Viele Metzger haben ihre Stuben in den Gassen rundum. Es sind, wie Ihr wohl unschwer sehen könnt, ihre Gattinnen und Töchter, die diese fromme Wanderung auf sich genommen haben. Ihre Wallfahrt wird in der Kirche enden, vor der Statue der heiligen Anna.«
»Der Patronin der Mütter«, murmelte ich, doch der Träger hörte mich nicht länger, denn er hatte sich umgewandt und zog nun, beladen mit seinem Mehlsack, gleich hundert anderen hinter den frommen Frauen her, um nach ihnen zur Messe in die Kirche Saint-Jacques-de-la-Boucherie zu gelangen.
Ich stemmte mich, da ich nicht zu weichen gedachte, gegen den Strom der Leiber. Da jedoch spürte ich, wie eine Hand im Gedränge nach meiner Kutte fasste. Ich drehte mich um - und starrte Jacquette ins Gesicht.
Ich war so erschrocken, dass ich keinen Ton über die Lippen brachte. Und das war auch gut so, denn ein Mönch, der mit einem erstaunten Ausruf eine Schönfrau ansprach, hätte wohl selbst unter so vielen erregten Menschen Aufsehen verursacht.
Die junge Dirne hob die Hand an ihren Mund und bedeutete mir, zu schweigen. Dann schob sie mich voran und drängte sich neben mich. Nun musste es für alle Menschen, die unserer ansichtig wurden, so wirken, als gingen wir nur zufällig nebeneinander her: zwei Gläubige, die beide zur Kirche strebten, um die Gebete vor der heiligen Anna mitzusprechen.
Welche Qualen litt ich! Ich wollte nicht vom Grand Châtelet weichen, denn jeden Moment mochte Meister Philippe wieder erscheinen. Welche Schande gar, würde er gerade jetzt aus dem Portal treten und mich in Begleitung von Jacquette erblicken! Was würde er denken von mir?
Ich erschauderte kurz: Müsste er nicht gar einen Verdächtigen in mir vermuten? War ich nicht auch Deutscher? Passte meine Ankunft nicht zu der Zeit, da Heinrich von Lübeck erstochen worden war? Wenn mich der Inquisitor nun im Gespräch mit der Frau antraf, die vielleicht mehr als jeder andere Mensch — außer dem Mörder selbstverständlich - über diese abscheuliche Tat wusste, so mochte selbst ein so scharfer Verstand wie der von Meister Philippe in die Irre gehen und in mir den Sünder sehen, nach dem wir alle suchten. Trotzdem zögerte ich nicht, an der Seite der Schönfrau zur Kirche zu streben. Ich war noch ganz benommen von ihrer Berührung. Doch nicht nur die schändliche Lust des Fleisches durchströmte mich, sondern auch die womöglich noch schändlichere Lust des Geistes. Ich machte mich der Sünde des Hochmuts schuldig — denn mein Geist erregte sich daran, dass mir Jacquette etwas mitteilen würde über jene schicksalhafte Nacht. Denn warum sonst hätte sie mich ansprechen sollen? Bald, das spürte ich, würde ich etwas wissen, das selbst dem klügsten Inquisitor von Paris noch verborgen war. Saint-Jacques-de-la-Boucherie war eine prachtvolle Kirche, denn die Gilde der Metzger war wohlhabend und sie spendete viel Geld zum Schmuck der Heimstatt GOTTES. Zudem war die Kirche ein Wegpunkt auf der Pilgerreise nach Santiago de Compostela. So sah man stets Wanderer mit der Jakobsmuschel aus- und eingehen, fromme Lieder singend oder versunken in ihre Gebete.
Wir traten in den Schatten des schlanken, wohl über einhundert Ellen aufragenden Turmes. Dann drängten wir uns ins Innere, das dunkel war und - nach der staubigen Hitze der Straßen - erfrischend kühl.
Ich vermochte die Menschen nicht zu zählen, die zum Standbild der heiligen Anna drängten. Hymnen schallten hinauf zum Dach und hoch in den Himmel, Kerzen brannten tausendfach und tauchten den Altar in ein güldenes Licht.