Jacquette berührte kurz meine Kutte und deutete mit der Rechten auf eine kleine, düstere Seitenkapelle, die weit entfernt war von der Statue der Patronin der Mütter.
So kniete ich mich denn vor ein verschlossenes Triptychon und faltete die Hände zum Gebet. Die junge Schönfrau ließ sich eine Bank hinter mir nieder, etwas versetzt, sodass ich sie aus den Augenwinkeln gerade eben noch beobachten konnte, ohne den Kopf unziemlich zu wenden.
Sie hatte ein dunkles Tuch um ihr Haupt geschlungen. Ich sah, dass sie unauffällig ein Stück Fenchel in den Mund schob und kaute, wie viele Frauen es tun, um ihren Atem zu erfrischen. Zugleich bemerkte ich jedoch auch, wie mager ihre Hände waren und wie eingefallen ihre Wangen.
Ich hatte mir, bevor wir das Kloster verließen, einen Beutel umgeschlungen, in dem ein Laib Brot und ein paar Zwiebeln steckten, da ich inzwischen wusste, wie lang die Tage sein konnten, wenn man mit Meister Philippe den Spuren in Paris folgte. Mitleid überkam mich - und ich ging das Risiko ein und schob Jacquette meine kargen Vorräte zu.
Sie sah mich überrascht an, dann dankbar, bevor sie mit einer raschen Geste Brot und Zwiebeln nahm und in einer Falte ihres Gewandes verschwinden ließ.
»Der Teufel will mich holen«, flüsterte die Schönfrau dann.
Ich glaubte, mich verhört zu haben und schlug doch zugleich das Kreuz. »Weißt du, was du da sagst?«, fragte ich.
Jacquette nickte heftig. »Seit vielen Tagen schon, Bruder, verstecke ich mich bei …« Sie zögerte kurz und entschied, mir den Namen ihres Komplizen lieber doch nicht zu verraten. »Nun, das ist gleichgültig.
Doch oft bin ich noch in den Gassen rund um Notre-Dame. Ich muss doch Geld verdienen!«
Ich sah ihren flehenden Blick und bedeutete ihr, ruhig fortzufahren. Dankbar, dass ich sie nicht getadelt hatte, wagte die Schönfrau ein kurzes Lächeln. Oh, es war mir, als ginge in der Bank hinter mir die Sonne auf und wärmte mich! Welch Sünder war ich doch schon geworden.
Jacquette wurde jedoch sofort wieder ernst und sprach nun hastig weiter. »In den Gassen schleicht eine finstere Gestalt herum, ich schwöre es Euch, Bruder. Ein düsterer Schatten, niemand hat je sein Gesicht gesehen. Dieser Schatten — er sucht mich!« Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, doch gewann sie die Gewalt über sich zurück.
»Woher willst du wissen, dass dieser Unbekannte gerade dich sucht?«, fragte ich.
»Einmal, da erblickte er mich. Er stand am Ende einer Gasse, in die ich gerade einbog. Ich erkannte sein Gesicht nicht, doch ich sah, wie er erstarrte. Dann flog er direkt auf mich zu!
Ich drehte mich um und lief weg, so schnell ich konnte. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so rannte, durch Gassen und Höfe und Schmutz. Irgendwann war der Schatten weg. Doch er schleicht noch immer durch die Gassen. Das haben mir Freundinnen erzählt, die«, sie zögerte kurz, »die auch des Nachts dort draußen sind. Keine hat ihn je erkannt, keine hat je gewagt ihn anzusprechen. Doch ich weiß, dass er mich sucht. Und ich weiß, dass es der Teufel ist!« Ich wollte etwas erwidern, doch sie ließ sich nun nicht mehr unterbrechen.
»Die Cordeliers sind gütig, Bruder. Jedermann liebt sie und verehrt sie gleich Heiligen. Euch Dominikaner jedoch fürchtet man und ich tue es ganz besonders. Ihr lasst auch nach mir suchen, oh ja, das weiß ich wohl.«
»Warum hast du mich denn dann angesprochen?«, unterbrach ich sie nun doch.
»Gerade weil Ihr Inquisitor seid, Bruder«, flüsterte sie. »Die Franziskaner mögen gütig sein, Ihr Dominikaner jedoch seid mächtig — und mächtige Männer GOTTES, die brauche ich wohl, wenn der Teufel hinter mir her ist. Allein deshalb habe ich mich Euch offenbart. Es ist besser, wenn ein Mönch mich sieht, als der Leibhaftige!«
»Warum gehst du nicht zu Meister Philippe?«, wollte ich wissen. »Wenn jemand in solchen Dingen erfahren ist, dann doch er.«
»Ihn fürchte ich fast so sehr wie den Teufel«, bekannte da Jacquette. »Ihr aber, Bruder, Ihr …«, sie suchte nach Worten. »Vor Euch habe ich auch Angst, jedoch nicht so große. Wenn Ihr versteht, was ich meine?«
»Ich verstehe dich«, murmelte ich — und wusste nicht, ob mir dieses Geständnis schmeicheln sollte oder ob es nicht eher einer Beleidigung gleichkam. So sind die Worte der Frauen: man weiß nicht einmal, ob sie süß sind wie Honig oder bitter wie Galle! Ich zumindest wusste es nicht und ich weiß es bis heute nicht.
»Wenn ich dir helfen soll, dann musst du mir die Wahrheit erzählen«, fuhr ich fort. »Alles. Ich muss alles erfahren von dem, was du in jener Nacht gesehen und gehört hast.«
»Ich habe gelogen«, gestand Jacquette. »Ich hatte so schreckliche Angst vor dem Inquisitor, da habe ich die Wahrheit verschwiegen.«
»Öffne deine Seele, bevor es zu spät ist«, ermahnte ich sie. »Ich habe gesehen, wie Euer Mitbruder niedergestochen wurde«, hauchte sie da — so leise, dass ich es kaum vernehmen konnte. Vor der Statue der heiligen Anna stimmten die Pilgerinnen nun einen frommen Gesang an und ihre Stimmen brausten durchs Kirchenschiff wie eine Sturmböe.
»Sprich lauter - und sprich schnell«, drängte ich die Schönfrau, denn solange die schwangeren Frauen sangen, mochte uns wohl niemand hören.
»Es war der Dekan der Domherren, dem ich in jener Nacht zu Diensten war«, gestand Jacquette.
»Nicolas d'Orgemont?«, fragte ich. »Bist du dir da ganz sicher?«
»Ja, er war schon häufiger bei mir und auch in jener Nacht, da ihn sein Schicksal ereilte, hatte er mich zuvor aufgesucht. Wir gingen zur zweiten Kapelle auf der rechten Seite von Notre-Dame, wo die Schatten besonders düster sind, und ich tat, was er mir zu tun befahl. Doch ich schwöre, dass er, als er mich verließ, gesund an Leib und Seele war! Ich schlich in mein Versteck zurück und hörte erst am nächsten Morgen, dass der Domherr in jener Nacht zu GOTT gerufen worden war. Herr d'Orgemont wird IHM viele Sünden gestehen müssen, denn ich habe die Wahrheit gesprochen, als ich sagte, dass er mich zu seinem Vergnügen schlägt. So war es auch in jener, seiner letzten Nacht.«
»Warum lässt du dies zu?«, fuhr ich auf.
Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Weil ich Hunger habe«, antwortete sie.
Ich schlug beschämt die Augen nieder.
»In jener Nacht nun, in der Heinrich von Lübeck ermordet wurde, da schlug mich Nicolas d'Orgemont wieder. Ich war schon zu Boden gegangen und versuchte, mein Haupt mit meinen Händen zu schützen, da erblickte ich plötzlich eine Gestalt, die aus der Kathedrale kam.«
»Langsam!«, unterbrach ich sie. »Jetzt musst du mir alles sehr genau erzählen: Wer kam heraus? Wo?«
Jacquette dachte einen Moment lang nach. »Ich sah eine dunkle Gestalt, mehr nicht. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Mönch war. Die Gestalt kam aus der Roten Pforte von Notre-Dame, über der die Heilige Mutter GOTTES thront. Die Gestalt rannte. Da kam eine zweite Gestalt aus der Kirche, aus derselben Pforte. Auch sie konnte ich nicht klar erkennen. Der zweite Unbekannte rief etwas, das ich nicht verstehen konnte — da blieb der erste stehen. Die zweite Person kam nahe an die erste heran. Es schien mir, als würden sie sich unterhalten.«
»Wie lange?«, unterbrach ich sie.
»Nur ein paar Momente. Nicolas d'Orgemont hielt gerade inne mit dem Schlagen, weil es ihn so sehr erhitzte, dass er schwer atmete. Ich aber wagte nicht, mich wieder aufzurichten. Also lag ich da, blickte auf die beiden Gestalten und erwartete den nächsten Schlag des Domherrn.
Da plötzlich schienen die beiden Unbekannten miteinander zu verschmelzen und einen wilden Tanz aufzuführen. Dann fiel die erste Gestalt zu Boden - und die zweite rannte davon, zurück in die Kathedrale.«
»Der Unbekannte stürzte?«
»Ja, besser kann ich es nicht beschreiben. Es ging so schnell. Einen Augenblick standen sich beide noch gegenüber. Dann schien es mir, als umarmten sie sich. Und im nächsten Moment lag einer am Boden, der andere rannte in die Kathedrale Notre-Dame zurück.«